"Digitale Schule heißt nicht Homeschooling"
Hirschau/Hürth, August 2020 - Anika Buche ist Lehrerin für Mathe, Sport und Biologie am Albert-Schweitzer-Gymnasium (ASG) in Hürth. Ihre Faszination für den digitalen Unterricht hat sie im Referendariat entdeckt und seither nicht wieder losgelassen. Diese Leidenschaft mit anderen Lehrern zu teilen – das ist das Ziel ihres Projekts Edu-sense, das unter anderem von Conrad Electronic unterstützt wird. Anika Buches Motto lautet: "Einfach mal machen, könnte ja gut werden." Im Interview erzählt sie von reibungslosem Homeschooling, ihrem Ansporn, ihren Zielen und ersten Erfahrungen.
Frau Buche, steigen wir mit einer ganz aktuellen Frage ein: An Ihrer Schule wird bereits seit Anfang dieses Schuljahres vermehrt digital gearbeitet. Inwiefern konnten Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von diesem digitalen Vorsprung in Corona-Zeiten und dem dadurch erforderlich werdenden Homeschooling profitieren?
Anika Buche: Wir als Kollegium konnten von der bereits geschaffenen digitalen Infrastruktur extrem profitieren. Denn unsere komplette Arbeitsumgebung war über MNSproCloud als Lern- und Organisationsplattform bereits vor Corona komplett angelegt. Das heißt: Die virtuelle Lehrer-Zusammenarbeit in Arbeitsgruppen war von jetzt auf gleich ebenso möglich wie die Zusammenarbeit mit Kursen und Klassen. Und unser komplettes Kollegium hatte bereits eine entsprechende, intern organisierte Fortbildung durchlaufen, in der die Kompetenzen in der Arbeit mit dieser Oberfläche vermittelt worden war. Allein das war eine Riesenhilfe, so dass wir ohne große Hürden ins Homeschooling einsteigen konnten.
Und wie genau sah der Weg zum Homeschooling für die Schülerschaft aus?
Anika Buche: Auch das ging sehr fix, zumal alle Schülerinnen und Schüler die Zugangsdaten zur digitalen Lernplattform MNSproCloud bereits vorher bekommen hatten. Auf einem eigenen Youtube-Kanal habe ich der Schülerschaft dann in Form von selbstgedrehten Video-Tutorials erklärt, wie sie sich auf der Lernplattform einloggen können und wie sie zu benutzen ist. Neben der Video-Kommunikation sind außerdem Chats mit den Lehrenden möglich und alle können die One-Note-Aufgabenzentrale nutzen.
Eine Auswahl an digitalen Unterrichtswerkzeugen mit kollaborativem Charakter machen auch Gruppenarbeiten in unterschiedlichen virtuellen Räumen sehr gut und kreativ möglich. Dank dieser digitalen Infrastruktur waren alle Schülerinnen und Schüler von Anfang an für alle Lehrkräfte auf demselben Weg erreichbar.
Das Motto war bei uns von Anfang an: "Kein Kind darf verloren gehen". Dank diesem einheitlichen Vorgehen gab es bei uns außerdem auch nicht die Fälle, dass Kinder von Lehrer oder Lehrerin A eine Mail mit den Aufgaben erhielten und von dem oder der nächsten per Post. Die Kinder hatten also auch im Homeschooling routinierte Abläufe und Rahmen, in denen sie selbstverantwortlich wirksam werden konnten.
Wie hat sich das auf das Homeschooling-Angebot an Ihrer Schule ausgewirkt?
Anika Buche: Für uns hieß das, dass wir unseren kompletten Unterricht ohne großen Zeitverlust in die Online-Welt verlagern konnten: Alle unsere Schüler wurden zu jeder Zeit in den Kernfächern (Mathe, Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Latein) unterrichtet, die Klassen 5 und 6 in einem zusätzlichen Nebenfach, die Klassen 7 und 8 in zwei zusätzlichen Nebenfächern, die Klassen 8 und 9 in drei zusätzlichen Nebenfächern und die Oberstufe komplett nach Stundenplan – also von 8 bis 16 Uhr.
Anders gesagt: Die Kids hatten permanent zu tun, zumal wir auch versucht haben gemeinsame, fächerübergreifende Projekte zu schaffen, um die Motivation der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Wie zum Beispiel beim Projekt "Traumzimmer", bei dem sie im Fach Mathematik ihr Zimmer vermessen und neu eingerichtet haben und anschließend mit einem Aufsatz in Deutsch ihren Eltern gute Argumente für eine Neugestaltung des eigenen Zimmers lieferten.
Würden Sie sagen, dass Corona der digitalen Schule in Deutschland Vorschub geleistet hat?
Anika Buche: Für mich steht fest, dass wir ohne Corona nicht da wären, wo wir jetzt stehen. Die Digitalisierung an Schulen hat durch Corona einen enormen Schub bekommen. Das "Warum" ist jetzt geklärt und jeder konnte live erleben, wie wichtig die Möglichkeit digitalen Arbeitens ist. Aber mir ist es an dieser Stelle ganz wichtig, das Phänomen Homeschooling vom Prinzip des digitalen Unterrichtens abzugrenzen.
Für uns Lehrerinnen und Lehrer, aber vor allem auch für unsere Schülerinnen und Schüler war der Verlust des sozialen Kontakts ganz schlimm: Lernen braucht Bindung und funktioniert nur über zwischenmenschliche Beziehung, die unter den Beschränkungen und Einschränkungen von Corona extrem gelitten hat und zum Teil noch leidet. Anders gesagt: Digitale Schule heißt nicht Homeschooling.
Digitale Schule bedeutet, dass digitale Tools ergänzend eingesetzt werden, um für jedes Kind das individuelle Lernen bestmöglich zu realisieren. Homeschooling hingegen ist nur eine Notlösung, wenn man Lernen – eben wie jetzt in Zeiten von Corona – nicht im sozial- physischen Kontext betreiben kann.
Dann springen wir an dieser Stelle einfach zurück zu den Anfängen und der Frage nach "echtem" digitalen Lehren und Lernen: Seit wann interessieren Sie sich dafür?
Anika Buche: Die Grundidee für Edu-sense besteht bereits seit meinem Referendariat. Damals habe ich viel mit einem stiftunterstützten Computer und bestimmten digitalen Tools gearbeitet, dabei aber immer gedacht, dass da im 21. Jahrhundert doch definitiv noch mehr gehen muss. Wenn alle SchülerInnen und LehrerInnen ein Endgerät hätten, könnte der Unterricht vielschichtiger differenziert und die Zusammenarbeit parallel unterrichtender Kolleginnen und Kollegen durch Arbeiten in der Cloud intensiviert werden.
Wie haben die Schülerinnen und Schüler darauf reagiert?
Anika Buche: Sowohl Schüler als auch Eltern sind auf diese ersten Unterrichtsversuche, die digital begleitet wurden, super angesprungen. In Mathematik konnte ich den Kindern Erklärvideos in einem "digitalen Heft" zur Verfügung stellen. Alle Unterrichtsergebnisse und verschiedene Lösungswege wurden außerdem in einer Bibliothek gesammelt, die von der Klasse zur Vorbereitung auf die Klassenarbeit oder zur Nacharbeit des Inhalts zu Hause online genutzt werden konnten. Auch Hilfestellungen wie Voice-Nachrichten bzw. Zusatzmaterial zum Download für den Nachhilfeunterricht konnten wir über diese Form anbieten, so dass man als NachhilfelehrerIn oder als Eltern den Unterricht intensiv aufarbeiten und selbständig begleiten kann. Daraus entstanden ist das Projekt Edu-sense, das dann nach den Sommerferien 2019 mit unserer Entwicklungsklasse 6c so richtig angelaufen ist.
Was ist Ihr Ansporn und was waren die ersten Schritte?
Anika Buche: Ich hatte beobachtet, dass auch andere Kolleginnen und Kollegen sich auf den Weg gemacht und für sich erste Versuche mit digitalem Unterricht unternommen hatten. Aber irgendwie war jeder für sich unterwegs. Insofern begann alles mit dem Wunsch nach Austausch und mit der Motivation, hier an meiner Schule etwas anzustoßen. Ziel Nummer eins war es, Unterrichtsprozesse moderner anzulegen und phygital – also in einer sinnvollen Mischung aus physischem und digitalem Arbeiten – zu gestalten.
Ziel Nummer zwei war es, kollaboratives Arbeiten an der Schule zu intensivieren. Mehr Zusammenarbeit zwischen den Lernenden und den Lehrkörpern in unterrichtlichen und organisatorischen Prozessen zu erzielen, liegt mir hier besonders am Herzen. Durch intensivere Schülerbetreuung auf Grundlage von Lernmaterial, das an die Leistungsvoraussetzungen und Bedürfnisse der Kinder angepasst ist, lassen sich erwiesenermaßen bessere Lernergebnisse erzielen. Weil die Erarbeitung dieser Materialien nicht gerade arbeitsunaufwändig sind, ist es umso wichtiger, dass wir Lehrkräfte uns gegenseitig unterstützen und zusammenarbeiten. Die Möglichkeiten der digitalen Welt können wir uns in diesem Rahmen zunutze machen.
Und dann wurde Edu-sense geboren. Was steckt dahinter?
Anika Buche: Mit der sozialen Initiative Edu-sense möchten wir Schulen bei der zeitgemäßen digitalen Transformation helfen. Daher wenden wir uns an all diejenigen, die HEUTE anfangen möchten, weil ihnen morgen schon zu spät ist. Wir möchten mit Edu-sense der Kaugummi zwischen den vielen engagierten Menschen im Bildungsbereich und tollen bestehenden Projekten und Initiativen sein. In einer schulübergreifenden Community möchten wir Bildungsmacher zusammenbringen und dazu animieren gemeinsam an der Entwicklung von Schulen mitzuarbeiten. Wir setzen uns dafür ein die Parallelwelten der bereits bestehenden Konzepte, Ideen und Erfahrungen wirksam zu verbinden.
Und wie kann das gelingen?
Anika Buche: Mit einer gemeinsam erarbeiteten Blaupause, dem Playbook, wollen wir Schulen helfen, den für sie individuell optimalen Weg der Transformation zu finden. Im Playbook werden erfolgreiche Handlungsvarianten von erfolgreich erprobten Konzepten von Vorreiterschulen zusammengestellt. Somit gelingt eine Sammlung wegweisender Empfehlungen zu zentralen Gelenkstellen und Fragestellungen im Transformationsprozess. Ziel ist, dass sich Schulen, die auf dem Weg der zeitgemäßen Weiterentwicklung sind, von den Erfahrungen und dem Wissen bereits transformierter Schulen profitieren können.
Edu-sense funktioniert nach der Idee "Lehrer first" – Was genau heißt das?
Anika Buche: Zeitgemäßer Unterricht hängt von den Lehrkräften ab. Um den Kindern digitale Kompetenzen in der Schullaufbahn mit auf den Weg geben zu können, die sie unumgänglich für die gegenwärtigen, aber noch mehr für die Jobs von morgen brauchen werden, müssen wir erst einmal Lehrkräfte haben, die diese unterrichten können. Daher umfasst Edu-sense die ganzheitliche Schultransformation. In diesem Sinne wird an den Haltungen der Schulgemeinschaft, zu denen auch die Lehrerinnen und Lehrer gehören, angesetzt.
Schule und Unterricht kann sich nämlich nur verändern, wenn man Lernen neu begreift. Dazu muss die Digitalität einbezogen werden. Das Lernen kann unter Inbezugnahme der digitalen Werkzeuge ganz andere Formen annehmen und ausprägen. Lernräume und Leistungsbewertungen verändern sich, wenn den neuen Lernwerkzeugen der Platz zur Entfaltung der vollen Wirkungskraft gegeben wird. Die Lehrkräfte werden daher in Edu-sense sowohl sehr eng in die Schultransformation einbezogen als auch individuell nach Bedarf in einem hausintern entwickelten Train-the Trainer Konzept fortgebildet.
Das heißt, zunächst wird das Kollegium an Ihrer Schule als Einheit fortgebildet?
Anika Buche: Ja fast. Bestimmte Fortbildungsinhalte werden im gesamten Kollegium vermittelt. Die Einführung und Nutzung der Lernplattform hinsichtlich Online-Kalendern und Beamer Buchungen war beispielsweise verpflichtend. Inwieweit sich die KollegInnen darüber hinaus in Sachen Unterrichtsneugestaltung fortbilden wollen, kann individuell entschieden werden. Wichtig ist, dass man niemandem etwas aufdrückt, sondern die KollegInnen selbst entscheiden können, welche Angebote sie für sich nutzen möchten.
Wie mit allen Dingen funktioniert eine Veränderung im Arbeiten nämlich nur, wenn sie intrinsisch motiviert ist. Wir hoffen, dass die KollegInnen für sich rasch merken, dass die digitalen Möglichkeiten vielseitig einsetzbar sind und neben der Ökonomie von Arbeitszeit auch das Verhältnis zwischen Lehrkraft, Klasse und KollegInnen stärkt, weil man über die digitale Arbeit ins Gespräch kommt.
Inwiefern ist Edu-sense auf die Unterstützung von Partnern angewiesen?
Anika Buche: Wenn es um Schultransformation geht kommt irgendwann natürlich auch die Ausstattung ins Spiel. Um Lehrkräfte digital ausbilden zu können, brauchen wir bestimmte Lehrerendgeräte. Unser internes Trainerteam haben wir in den letzten fünf Monaten bereits aus eigener Initiative ausgestattet. Wir hoffen, dass wir so die Schwelle überbrücken können, bis Bund und Länder den Lehrkörpern das erforderliche Material zur Verfügung stellen oder endlich Gelder aus dem Digitalpakt fließen. Solange können und wollen wir aber nicht warten, daher sind wir in unserem Falle auf Unterstützer angewiesen, die uns mit der nötigen Ausstattung kurzfristig helfen.
Aus diesem Grund haben Conrad Electronic und HP beispielsweise mit Lehrerendgeräten den ersten Anstoß der nötigen Hilfe gegeben. Außerdem benötigen wir die Unterstützung von Projektpartnern hinsichtlich guter Lernsoftwares oder Lerntools, die wir gezielt und unter Evaluation der Lernqualität im Unterricht einsetzen können. Denn meist sind gute Softwares in Klassenlizenzen so teuer, dass das Geld, das eine Schule für diese Dinge zur Verfügung hat, nicht reicht.
Und wie sieht es mit einer Lernplattform für Schulen aus? Haben Sie auch hier bereits erste Erfahrungen sammeln können?
Anika Buche: Eine auf die Bedürfnisse der Schule angepasste Lernplattform ist besonders wichtig. Wir am ASG haben uns für MNSproCloud entschieden. Auf dieser All-in-One-Oberfläche kann man als Lehrkraft digital mit den Kursen und Klassen und unter Kolleginnen und Kollegen in Arbeitsgruppen zusammenarbeiten. Die Materialien können egal von welchem Gerät zu jeder Zeit angerufen werden.
Für den Unterricht kommt uns in der Zusammenarbeit mit den Kindern das Kursnotizbuch zugute. Hier gibt es eine Inhaltsbibliothek, in der der Lehrer oder die Lehrerin das gesamte Unterrichtsmaterial einstellen kann, auf das die Klasse dann zugreifen kann. Jeder hat seinen eigenen Arbeitsbereich, in dem er seine Aufgaben bearbeiten kann, die wiederum die Lehrkraft in lifetime ansehen und Rückmeldung geben kann. So kann die Lehrkraft leicht einsehen, welche Inhalte von wem wie gut verstanden worden sind und wo noch Hilfe benötigt wird, die man den einzelnen Kindern dann wiederum direkt zur Verfügung stellen kann.
Es gibt außerdem einen Arbeitsbereich, in dem alle Schülerinnen und Schüler zusammen als Team arbeiten können. Das ist für Gruppenarbeiten besonders praktisch. Und als Lehrkraft haben wir die Möglichkeit, in unseren Klassenteams über MNSpro Cloud Informationen über Klassenarbeitstermine auszutauschen. Hier gibt es neben einem Bereich, bei dem alle auf Materialien zugreifen und diese einstellen können, auch geteilte Kalender, was die Abstimmung untereinander deutlich einfacher macht.
Und was bringt die Lernplattform sonst noch für Vorteile?
Anika Buche: Die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Schülern in der Cloud macht für uns vieles einfacher. So muss man z.B. für eine Raumbuchung nicht in der Schule sein und sich in irgendeine Liste eintragen, sondern kann dies auch mal eben sonntagabends von der Couch aus machen und die Schüler werden über Chat informiert. Alle Termine können bequem über geteilte Online Kalender organisiert werden. Auch das eMail-Ping-Pong in manchen Angelegenheiten entfällt, wenn man eine chatbasierte Kommunikation wählt.
Und wie geht es jetzt weiter mit Edu-sense am Albert-Schweitzer-Gymnasium?
Anika Buche: Wir bauen gerade eine Vision mit der gesamten Schulgemeinde auf, wie wir Lernen in Zukunft verstehen wollen. Im letzten Dreivierteljahr haben wir viele Erfahrungen gesammelt und sind jeder für uns reicher geworden. Nun geht es darum zu schauen, wo die Reise für uns hingeht und wohin wir uns mit der Schule entwickeln wollen.
Und wie geht es mit Edu-sense insgesamt weiter?
Anika Buche: Gerade haben wir die Struktur des Playbooks stehen. Im nächsten Schritt geht es gerade darum Teamstrukturen zu schaffen. Wir suchen aktuell nach Menschen, die die Bausteine und Fragestellungen betreuen. Die Inhalte zu den Bausteinen werden nun nach und nach gelauncht. Außerdem bilden wir gerade Personal aus, das die Schulen in den ersten Schritten der Transformation sehr eng und individuell begleitet. Einen Ansprechpartner zu haben ist sehr wichtig in so einem komplexen Prozess. Schulen, die mit Edu-sense arbeiten möchten können sich an info@edu-sense.de wenden.