Vom Hype zur konkreten Anwendung
Friedrichsdorf, Mai 2022 - (von Michael Huss, M.I.T e-Solutions) Rund um das Thema "KI" gab es in den letzten Jahren immer wieder einmal einen medialen Hype. Der Bereich Bildung beziehungsweise Training machte hier keine Ausnahme. Doch wo stehen wir hier aktuell wirklich? Gibt es bereits realistische Anwendungsszenarien? Wie und wo können Unternehmen ansetzen, die ihre Weiterbildung mit KI auf das nächste Level bringen wollen?
Was bedeuten KI und Big Data überhaupt?
Allgemein versteht man unter dem Begriff Künstliche Intelligenz (KI) bzw. engl. Artificial Intelligence (AI) Technologien, welche die (menschliche) natürliche Intelligenz nachzuahmen versuchen. Dazu gehören die Fähigkeiten, aus Fehlern zu lernen sowie auf komplexe Situationen angemessen zu reagieren. Insbesondere geht es darum, auch bei diffusen, lückenhaften und teilweise widersprüchlichen Informationen schnell eine angemessene Reaktion zu zeigen. Diese Fähigkeiten zeichnen Menschen und einige inteligente Tierarten aus.
Den ganzen Tag lang treffen wir auf Situationen, die wir oft nicht perfekt überblicken oder lange durchdenken können. Trotzdem sind wir meist in der Lage, adäquat zu reagieren. Künstliche Intelligenz versucht diese Fähigkeit mittels Software nachzuahmen. Von noch relativ einfachen Anwendungen wie Gesichtserkennung und Schachspiel bis hin zu Übersetzung von Sprachen und autonom fahrenden Autos ist KI heute bereits im Einsatz.
Ein zentrales Anliegen von KI liegt darin, unabhängig von explizit einprogrammierten Regeln zu werden. Fast alle unsere Alltagssituationen – etwa der Straßenverkehr – sind zu komplex, um alle denkbaren Ereignisse vorab genau festlegen zu können. Hier kommen Machine Learning und Big Data ins Spiel: Die KI soll mittels einer großen Menge von Daten (Big Data) selbständig lernen, welche Regeln für bestimmte Situationen angemessen sind.
Wie kann KI beim Lernen helfen?
Im Bereich Bildung und Training gibt es (mindestens) zwei interessante Einsatzbereiche für KI: Zum einen kann KI Lernenden basierend auf ihrem Vorwissen passende Lernvorschläge machen oder bestehende Lerneinheiten maßgeschneidert optimieren. Zum anderen kann KI Trainer*innen bzw. Ausbilder*innen wichtige Hinweise geben, wo die Stärken und Schwächen eines bestimmten Lernernden liegen. Gerade bei widersprüchlicher Datenlage kann eine KI Muster im Lernverhalten bzw. den Lernresultaten identifizieren, die nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich sind.
Beim eigenständigen Lernen (ohne Ausbilder*in) kann eine KI dem Lernenden entsprechende Hinweise geben, bei welchen Themen noch Schwächen bestehen oder das Lernverhalten angepasst werden sollte. Nicht zuletzt kann die KI Lernenden helfen, aus einer immer größer werdenden Menge von formellen und informellen Lernangeboten die aktuell wichtigsten zu finden. Dabei wird nicht nur die individuelle Vorgeschichte des Lernenden berücksichtigt, sondern auch Daten aus dem Kollegium oder weiteren Personen, die vor ähnlichen Herausforderungen standen.
Welche Fallstricke gibt es?
Damit eine KI als Lernhilfe effektiv sein kann, benötigt sie möglichst viele Daten über die Lernenden und ihr jeweiliges Lernverhalten. Hierzu zählen nicht nur relativ einfache Daten wie "Aufgabe richtig/falsch gelöst", sondern auch Metadaten:
Wann, wo und wie oft hat sich jemand mit welchen Lerninhalten befasst? Wurde im Intranet des Unternehmens nach Informationen gesucht? Gab es Emails, Empfehlungen oder Chats mit Kolleg*innen, in denen Schlagworte aus den Lerninhalten vorkommen? Alle diese Fragen berühren das Thema Datenschutz! Sofern der Einsatz von KI zur Lernunterstützung angedacht wird, muss das Thema Datenschutz daher von Anfang an mitgedacht werden. Damit die KI nicht als "Überwacher im Hintergrund" empfunden wird, sollte der Einsatz für die Lernenden transparent und freiwillig ("opt-in") erfolgen.
Die zweite Herausforderung ist technischer Art. Im Gegensatz etwa zu klassischen Web Based Trainings (WBT) kommen für eine KI als Lernhilfe zahlreiche heterogene Datenquellen infrage: WBT, Video, Learning Nuggets, Intranet, Lernspiele, Simulationen, Virtual Reality (VR)/Augmented Reality (AR), mobile Apps, Chats, sogar Präsenzveranstaltungen und viele mehr. Während sich klassische Lernmedien wie WBT oftmals im Learning Management System (LMS) eines Unternehmens befinden – und dort die Resultate auch direkt ausgewertet werden können –, befinden sich die o.g. Datenquellen nur teilweise oder gar nicht im LMS.
Hier stellt sich die Frage: Wie und wo werden die Lerndaten aus all diesen unterschiedlichen Quellen zusammengeführt?
Learning Ecosystem und LRS
All die oben genannten heterogenen Datenquellen lassen sich als eine Art "Ökosystem des Lernens" auffassen, engl. Learning Ecosystem. Anstatt einiger weniger, fest definierter Lerninhalte, die den Lernenden (vom Unternehmen) "vorgesetzt" werden, wird es künftig eine immer größere Menge unterschiedlicher Lerninhalte geben. Lernen kann immer und überall erfolgen, nicht nur im LMS und im Rahmen vorgegebener Lerninhalte. Der Ansatz des Learning Ecosystem reflektiert die Entwicklung hin zum lebenslangen Lernen sowie vom Lernenden selbst mitbestimmter Weiterbildung – innerhalb und außerhalb des Unternehmens.
Da sich nur noch ein Teil der heterogenen Datenquellen (engl. auch als Activity Providers bezeichnet) im LMS befindet, müssen die Lerndaten an einer anderen Stelle zusammengeführt werden: im sogenannten Learning Record Store (LRS). Der LRS lässt sich als eine Art vielseitige Datenbank mit Auswertungsfunktionen betrachten. Hier laufen die Lerndaten aller Lernenden aus den verschiedensten Lernsituationen und Lernmedien zusammen. Die am Markt erhältlichen LRS bieten meist bereits einige Möglichkeiten zur Auswertung des Lernverhaltens an.
Erste konkrete Schritte
Weder das Learning Ecosystem noch der LRS beinhalten "an sich" eine Künstliche Intelligenz. Sie stellen lediglich die Basis von Lerndaten ("Big Data") bereit, welche eine KI benötigt, um als Lernhilfe zu fungieren. Hier stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Erfahrungsgemäß sind mit Ausbildung bzw. Human Resources befasste Personen innerhalb von Unternehmen begeistert, wenn sie von Learning Ecosystem, Lern-KI und all den neuen Möglichkeiten hören. Doch im Alltag kommen oft weitere klassische Lernmedien wie WBT und Videos innerhalb eines LMS zum Einsatz.
Der Sprung von der "alten" Welt des Lernens zu den neuen Lernformen des 21. Jahrhunderts scheint oftmals noch zu groß. Auf den ersten Blick erscheint es, als müsse man alles Bisherige wegwerfen und mit etwas ganz Neuem, Unbekannten weitermachen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass es bereits einigen Hype um die dargestellten Themen gab – ohne nachhaltige Effekte im eigenen Unternehmen – dürfte auch zur Skepsis beitragen.
Die gute Nachricht: Der Anfang muss weder schwer noch teuer sein. Auch muss weder das vorhandene LMS noch vorhandene Lernmedien sofort ersetzt werden. Ein erster Schritt in die neue Welt des Lernens lässt sich schon mit einem kleinen Learning Ecosystem (bestehend bspw. aus einer Handvoll Lernmedien wie WBT, Video, Learning Nuggets etc.) sowie einem kostengünstigen LRS realisieren. Dieser kann dabei on-premise oder extern gehostet sein. Innerhalb des LRS lässt sich die Leistung der Lernenden mittels Learning Analytics auswerten und auf einem individuell konfigurierbaren Dashboard übersichtlich darstellen (Charts etc.).
Übrigens: Hier muss im ersten Anlauf noch keine KI zum Einsatz kommen. Sind jedoch einmal ausreichend Lerndaten im LRS vorhanden, kann die Auswertung später um KI-Algorithmen erweitert werden. So ließen sich etwa Muster im Lernverhalten identifizieren. Entsprechende KI-Algorithmen sind (teilweise Open Source) verfügbar, müssten jedoch für den spezifischen Anwendungsfall im Unternehmen angepasst (umprogrammiert) werden. Die Einrichtung von LRS, Learning Analytics sowie Erweiterungen um KI-Algorithmen kann entweder die IT-Abteilung des Unternehmens oder ein darauf spezialisierter, externer eLearning-Anbieter übernehmen.
Ein solcher Schritt-für-Schritt-Ansatz erlaubt eine allmähliche Transformation der "alten" Lernwelt im Unternehmen (LMS + klassische Lernmedien) in Richtung der zukünftigen Form. So ist es auch möglich, zunächst nur mit einer bestimmten Abteilung oder einem begrenzten Themengebiet zu beginnen, und dann Learning Ecosysteme und Learning Analytics-Funktionen sukzessive zu erweitern – bis hin zum Einsatz von KI.