Zeitgeist

Wie ist es heute um die Nachhaltigkeit bestellt?

Hajo Noll, CanudoBad Homburg, Mai 2025 - Hajo Noll, Geschäftsführer und Gesellschafter der Agentur Canudo, ist seit 1996 in der Branche tätig und hat viele namhafte Unternehmen bei der Ideenfindung, Durchführung und Weiterentwicklung von eLearning-Projekten begleitet und beraten. Sein Fokus im Corporate Learning liegt nicht nur auf Wissensvermittlung, sondern auf dem Ermöglichen von Können. Also auf nachhaltigem Lernen. CHECK.point eLearning befragte ihn zur Entwicklung verschiedenster Nachhaltigkeitsaspekte.

Etliche eLearning-Anbieter werben damit, dass die Lernform eLearning per se nachhaltig sei. Was spricht dafür, was dagegen?

Hajo Noll: Danke für die gute Frage. Denn den Begriff Nachhaltigkeit gibt es ja grundsätzlich schon lange. Früher aber - im Kontext von eLearning - verstand man darunter Lernmedien, die nachhaltig sind im Sinne des Return on Invest, in die sich also die Investition lohnt, weil sich etwas einsparen lässt oder aber weil man nachweisen konnte, dass die Lerninhalte angewendet wurden. Das war bei Canudo immer schon der Fokus.

Dann gibt es den "neuen" Begriff der Nachhaltigkeit (obwohl er von 1752 ist), der auch den ökologischen Aspekt betrachtet. Da kann man keinesfalls pauschal sagen, dass eLearning nachhaltig ist. In England gab es eine Studie dazu. CO2 Ausstoß durch Serverfarmen für das Hosten der Lernmanagementsysteme, Softwaretools, Inhalte oder auch das Streamen von Lernvideos etc. Das ist immens, so dass man auch bei digitalen Medien generell aufpassen sollte, wie man die Inhaltsmenge, die Nutzungsintensität und die Nutzergruppengröße achtsam wählt. Denn digital ist ungleich nachhaltig.
Rechnet man auch noch Geräte für die Nutzung von eLearning mit in die Umweltbilanz ein, dann wird es düster. Kein PC, kein Laptop und erst recht kein Smartphone ist nachhaltig. Und das nicht nur im ökologischen, sondern auch im sozialen Kontext. Jedes Smartphone bedeutet Kinderarbeit und das Befördern von Konflikten in jenen Regionen, aus denen die Rohstoffe für diese Geräte herkommen.

 

Wie lässt sich die eLearning-Produktion selbst nachhaltiger gestalten?

Hajo Noll: Die eLearning-Produktion lässt sich genauso nachhaltig gestalten, wie sich das Leben nachhaltig gestalten lässt, der Urlaub nachhaltig gestalten lässt et cetera et cetera.
Ich denke, wenn man mit Bedacht - oder man sagt ja heute auch gerne Achtsamkeit - an was auch immer herangeht, dann kann man Dinge von Anfang an nachhaltiger gestalten. 
Das bedeutet, wenn man im eLearning ein Projekt beginnt, dann trifft man sich zum Kickoff mit Kund:innen und danach macht man Dinge virtuell. Dabei schaut man sich die Zielgruppe genau an, so dass man exakt nur das in die Umsetzung gibt, was für die Zielgruppe wirklich relevant ist. In der Regel führt das zu einer Reduktion der Lerninhalte um mindestens 50 Prozent, manchmal sogar mehr.
Bei der Konzeption oder dem Drehbuch überlegt man, wie die Inhalte zielgruppenorientiert umgesetzt werden, damit die Lernenden alles anwenden können. Und schließlich nutzt man ein Werkzeug für die technische Umsetzung, das von einem Anbieter kommt, der nachhaltig ist (Thema Lieferkette). Et cetera et cetera …

 

Welche Rolle spielt KI dabei?

Hajo Noll: Diese Frage wundert mich. Denn ich denke, alles was man in die KI eingibt - als Frage oder als Umsetzungsbefehl, als Prompt oder wie auch immer - muss verarbeitet und berechnet werden. Der Prozess, der zu einem Ergebnis führt, bedeutet das Verarbeiten von einer riesigen Datenmenge, was auf Servern geschieht, die CO2 produzieren...
Kürzlich hörte ich irgendwo, dass ein ganz banaler ChatGBT-Prompt für die Beantwortung so viel CO2 ausstößt, wie drei Kilometer Autofahren mit einem Benziner. Ich denke, das kann man pauschal nicht sagen, aber wenn man das im Kopf hat und überlegt, was die KI an Rechenleistungen benötigt für das, was jeder damit tut, dann kommt schon ordentlich viel CO2 Ausstoß zusammen. Daher würde ich niemals KI in Relation zur Nachhaltigkeit setzen oder zu nachhaltigem Agieren. Für mich hat das eine mit dem anderen wirklich nichts zu tun.
 

Erweist sich das Thema Nachhaltigkeit als Modernisierungstreiber der eLearning-Branche oder ist es eher noch "nice to have"?

Hajo Noll: Ich denke, Nachhaltigkeit ist - wenn überhaupt - leider nur ein "nice to have" in der eLearning-Branche. Das fing anders an, als wir 2016 loslegten mit Nachhaltigkeit und 2018 durchgestartet sind. Da hatte man das Gefühl, dass man jetzt viel tun muss und sich etwas bewegt. Durch die Corona-Krise und den russischen Angriffskrieg und die daraus folgende Polarisierung in der Gesellschaft und das politische Beben weltweit, ist das Thema Nachhaltigkeit grundsätzlich in den Hintergrund getreten. Leider.
Die Menschen haben heute andere Prioritäten, die sich vor allem darum drehen mit der Komplexität des Lebens und Arbeitens zurecht zu kommen. Da ist Nachhaltigkeit ein "nice to have". Dafür fehlt jetzt einfach die Zeit und deswegen hat es leider an Bedeutung verloren. Vielen reicht es, irgendwo ein Label "hinzuknallen" und das war's. Das Mindset und das wirkliche nachhaltige Agieren, das können wir ja vielleicht in zehn Jahren noch machen. Leider.

 

Wie schätzen Sie die Zukunft der Nachhaltigkeit im eLearning ein?

Hajo Noll: Das ist eine sehr schöne Frage, weil ich mit dieser Frage und mit meiner Antwort optimistisch in die Zukunft schauen kann …
Ich bin mir sicher, dass der "Sturm", in dem wir uns befinden, die sogenannte VUCA Welt, sich irgendwann legen wird. Das wird mit Sicherheit auch noch vier bis fünf Jahre dauern, aber der Sturm wird sich legen. Und damit meine ich nicht, dass wir wieder da sein werden, wo wir einmal waren, sondern natürlich werden wir irgendwo anders ankommen und es wird anders sein.
Ich hoffe, dass die kriegerischen Aktivitäten auf diesem Planeten dann stark reduziert sind. Ich hoffe, dass die polarisierenden, antidemokratischen politischen Parteien und Meinungsführer:innen weniger werden und es ruhiger wird. Ich hoffe, dass demokratische Werte und Freiheit wieder in den Fokus rücken.

Ich hoffe, dass die Wirtschaft sich im Rahmen dessen, was sich neu ergibt, wieder stabil aufstellen kann. Vielleicht auch mit weltweit neuen Partnerschaften. Das ist etwas, woran ich glaube. Es wird sich viel verschieben: neue Partnerschaften, Kooperationen, Geschäftsmodelle oder Länder, Kulturen, die miteinander agieren, die es vorher nicht getan haben. Da bin ich sehr optimistisch und auch froh, dass wir Menschen solche Veränderungsprozesse positiv mitgestalten können. Das ist unsere Stärke. Wenn wir die Leute quasi "abschalten", die meinen, sie müssten die aktuelle Zeit der Unsicherheit nutzen, um Unruhe zu stiften. Dann können wir unser Potenzial als menschliches Wesen wirklich ausschöpfen.

Und in diesem positiven Flow wird irgendwann die Nachhaltigkeit wieder auftauchen und einen Riesenantrieb bekommen. So wie es immer schon irgendwelche Dinge gab, die erst durch Veränderungen in der Welt, in der Gesellschaft, plötzlich ein Antrieb bekommen. Zum Beispiel die Mikrowelle, die gab es schon ewig, bevor plötzlich die ganze Welt Mikrowellen gekauft hat, weil es entsprechende Kulturveränderungen gab. Kinder haben sich das von der Mutter gekochte Essen mittags in der Mikrowelle aufgewärmt, weil die Mutter neuerdings arbeitete oder auch arbeiten durfte (außerhalb des Haushaltes). Und so denke ich: Nachhaltigkeit ist aktuell wie die Mikrowelle. Sie steht im Laden, es will sie noch keiner, auch wenn die Leute sie praktisch finden. Aber irgendwann wird sie fester Bestandteil jeder Kücheneinrichtung werden, und das ist mein positiver Ausblick in die Zukunft, selbst wenn das noch fünf oder zehn Jahre dauert.