"ChatGPT kann zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen"
München, Februar 2023 - Seit ChatGPT öffentlich ist, ist die Verunsicherung in Schulen und Hochschulen groß. Mehr als 20 Wissenschaftler:innen der Technischen Universität München (TUM) und der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) aus Bildungs-, Sozial-, Computer- und Datenwissenschaften zeigen nun in einem Positionspapier, dass die sogenannten Sprachmodelle auch viele Chancen für die Bildung bieten. Die Koordinatorin Prof. Enkelejda Kasneci erklärt im Interview, wie Lernende profitieren und Lehrkräfte entlastet werden könnten.
Der Schulbezirk New York hat den Einsatz von ChatGPT verboten. Ist das der richtige Weg?
Prof. Dr. Enkelejda Kasneci: Wir halten das für den falschen und auch einen zu bequemen Weg. Die Entwicklung von Sprachmodellen wie ChatGPT ist ein technologischer Meilenstein, ein Zurück wird es nicht geben. Die Tools sind in der Welt, sie werden besser werden und wir müssen lernen, sie konstruktiv zu nutzen. Wir sind überzeugt, dass sie sehr große Chancen für ein Empowerment von Menschen bieten, die bislang benachteiligt waren. ChatGPT und ähnliche Programme können zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen.
Wer könnte von ChatGPT-Anwendungen profitieren?
Prof. Dr. Enkelejda Kasneci: Zum einen handelt es sich um ein Werkzeug, mit dem in Zukunft alle weltweit lernen können, die einen Internetzugang haben – also unabhängig davon, wie gut das Bildungssystem im jeweiligen Land ist. Zum anderen kann es Menschen helfen, sich in Texten besser auszudrücken, die damit sonst Schwierigkeiten haben, beispielsweise aufgrund einer Behinderung. Das kann ihnen neue Möglichkeiten geben, gesellschaftlich zu partizipieren.
Und im Schulalltag?
Prof. Dr. Enkelejda Kasneci: Hier sehen wir ein großes Potenzial, mit dem personalisierten Einsatz solcher Tools die individuellen Schwächen jedes einzelnen Kindes zu entschärfen, die Stärken hervorzuheben und zu einem konstruktiven Lernerfolg beizutragen. Wir reden ja über ein KI-basiertes Werkzeug, das unterschiedliche Formen von Texten erkennen und schreiben kann. Schüler:innen könnten Vorschläge für sprachliche Verbesserungen und Alternativen für verschiedene Textgestaltungen gezeigt bekommen. Das kann ihnen helfen, ihre Ausdrucksfähigkeit zu verbessern.
Mein Lehrstuhl-Team hat gerade ein Tool entwickelt, das auf Basis von großen Sprachmodellen einen Aufsatz analysieren und Feedback geben kann, etwa 'Es wäre besser, eine einheitliche Zeitform zu verwenden' oder 'Du könntest noch mehr auf den Konjunktiv achten'. Diese Rückmeldungen können an das Alter und das Kompetenzniveau der einzelnen Kinder angepasst werden.
Es herrscht derzeit eher die Sorge, das Lernen von Sprache könnte verkümmern.
Prof. Dr. Enkelejda Kasneci: Das sehen wir anders. Im Gegenteil, solche Anwendungen können das Sprachverständnis fördern. Aber auch in anderen Fächern können sie hilfreich sein. Sie können beispielsweise Fragen zu einem bestimmten Thema kreieren. Jugendliche könnten sie also zu Hause als Lernbuddy für eine Prüfung nutzen, der auf diejenigen Punkte besonders eingeht, die sie noch nicht so gut beherrschen. Diesen Grad an Individualisierung können die Schulen im Alltag bislang kaum leisten.
Könnte die KI also auch eine Entlastung für die Lehrer:innen sein?
Prof. Dr. Enkelejda Kasneci: Davon gehen wir aus. Künstliche Intelligenz könnte in Zukunft auch bei der Korrektur von Schularbeiten unterstützen.
… die sich die Schüler:innen zuvor haben erstellen lassen, um bessere Noten zu bekommen.
Prof. Dr. Enkelejda Kasneci: Natürlich kann niemand ausschließen, dass eine Text-Hausaufgabe nicht selbstständig angefertigt wird. Aber die Diskussion erinnert mich stark an die Debatten beim Start von Wikipedia. Damals wurde auch befürchtet, dass ein Großteil der Schularbeiten künftig aus dem Internet kopiert wird. Damals wie heute müssen wir von der Grundschule an die Bedeutung vermitteln, sich nicht auf Angaben eines einzelnen Portals zu verlassen, Informationen zu überprüfen und mit Quellen zu untermauern.
Wenn ein Textautomatisierungsprogramm die Prüfungsleistung übernehmen kann, sagt das auch einiges über die Qualität der Prüfung aus. Da müssen wir uns schon fragen, welche Lehrmethoden wir anwenden und inwiefern wir Kompetenzen wie kritisches Denken und Problemlösungskompetenz vermitteln.
Wer muss was machen, damit ChatGPT und ähnliche Modelle tatsächlich gewinnbringend im Unterricht zum Einsatz kommen?
Prof. Dr. Enkelejda Kasneci: Die Forschung muss stabilere Erkenntnisse gewinnen, welche Effekte die Sprachmodelle beim Lernen haben, wie sie in einem bestimmten Lernkontext eingesetzt werden können und ab wann sie einsatzbereit sind. Es sind zudem ganzheitliche Lehrkonzepte und Weiterbildungsmöglichkeiten für Lehrkräfte notwendig. Alle gemeinsam müssen wir schnell reagieren. Und die Anbieter:innen müssen Fragen rund um Datenschutz, Sicherheit, Voreingenommenheit und Verzerrungen beim maschinellen Lernen, Copyright und Transparenz sehr ernst nehmen.
Bis diese Ziele erreicht sind, wird einige Zeit verstreichen. Wie können Lehrer:innen in der Zwischenzeit mit ChatGPT und Co. umgehen?
Prof. Dr. Enkelejda Kasneci: Wir raten allen Lehrkräften: Probieren Sie die Tools aus! Entdecken Sie sie gemeinsam mit den Schüler:innen. Dabei sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt, wenn Sie gleichzeitig einen kritischen Blick bewahren.