Digitale Transformation

Eigenverantwortlich neue Kompetenzen erwerben

Kirsten WessendorfSaarbrücken, Mai 2018 – Kaum etwas ist so beständig wie der Wandel in heutigen Lern- und Arbeitskontexten. Die Notwendigkeit, immer besser, vorausschauender und schneller zu werden, ist allgegenwärtig. Weiterbildung spielt dabei fast ständig eine Rolle. Viele Unternehmen haben bereits verstanden, wie wichtig es ist, die innerbetrieblichen Lernarchitekturen zu überdenken oder neu aufzusetzen.

Die Bedarfe der einzelnen Lerner in Unternehmen sind so individuell und komplex, dass das Anbieten von Web-based Trainings und die Einführung eines Learning Management Systems allein noch längst keine ganzheitliche Lernstrategie darstellen. Auf der anderen Seite wächst die Verantwortung der Mitarbeiter, die heute in der Lage sein müssen, selbstgesteuert und eigenverantwortlich neue Kompetenzen zu erwerben. Im Experteninterview verrät Kirsten Wessendorf, Expertin für digitale Lernstrategien bei IMC, welche aktuell die größten Herausforderungen im Bereich der betrieblichen Weiterbildung sind und wer bei der Entwicklung einer umfassenden Strategie in jedem Fall einbezogen werden sollte.
 

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Treiber im Bereich der digitalen Weiterbildung?
Kirsten Wessendorf: Es ist offensichtlich, dass aktuell der Bedarf an Weiterbildung rasant ansteigt. Einer der wichtigsten, wenn nicht sogar der wichtigste Treiber in diesem Zusammenhang ist die digitale Transformation. Weitere prägende Faktoren sind der demographische Wandel sowie die Art und Weise, wie die Generation der Digital Natives Informationen verarbeitet und sich weiterbildet. Im Blog des Wirtschaftswissenschaftlers Dr.Holger Schmidt schreibt der selbsternannte Netzökonom: "Qualifikationen entwerten sich schneller als je zuvor". Die Konsequenz: Es wird für Mitarbeiter zusehends wichtiger, das eigene Kompetenzportfolio ständig agil weiterzuentwickeln.

Diese Notwendigkeit ist heute auch den meisten Unternehmen bewusst, die ein zielgruppengerechtes Lernangebot schaffen müssen. Dieses soll nicht zuletzt den hohen Ansprüchen der Digital Natives genügen, die Wert auf Qualität legen, z.B. im Hinblick auf eine hervorragende Usability. Zudem verändern sich für sehr viele Rollen im Unternehmen die Kompetenzprofile. Das betrifft auch Mitarbeiter, die jetzt Führungskräfte sind. Heute sind Führungskräfte die sogenannten Entscheider. Aber wie werden die Entscheidungen in der Zukunft getroffen? Von einem agil arbeitenden Team? Und worin besteht dann die Rolle der jetzigen Entscheider?

Es wird also deutlich: Agilität, das heißt antizipatives Handeln und die Fähigkeit zur Veränderung sind integraler Bestandteil der heutigen Arbeitswelt. Und nur wenn ich kontinuierlich zusätzliche neue, jetzt wichtige Kompetenzen erwerbe, kann ich mich in dieser von Veränderung geprägten Welt behaupten. Eigentlich ein normaler evolutionärer Vorgang! 

Das Wissen der Unternehmen um den eigenen Bedarf ist sicher die Grundvoraussetzung, um ein Weiterbildungsprogramm überhaupt anstoßen zu können, oder?
Kirsten Wessendorf: Ja, absolut. Außerdem ist es interessant zu beobachten, dass oft beim Aufsetzen der Weiterbildungsstrategie zusätzliche oder nachgelagerte Bedarfe zutage treten, die zunächst gar nicht zu erkennen waren. Ein kurzes Beispiel macht den Gedanken sicher etwas greifbarer: Wenn ein Unternehmen sich etwa dazu entscheidet, ein CRM-System einzuführen, liegt es auf der Hand, dass dieses Unternehmen gleich nach der Einführung eine Softwareschulung benötigen wird. Was aber hier möglicherweise vergessen wird, sind die eventuellen Bedenken der Sales-Mitarbeiter, dass sämtliche Informationen zu ihrer Kundenbeziehung für den Vorgesetzten frei zugänglich sind und sich dieser eventuell zu stark in die eigenen Projekte einmischt.

Solche Vorbehalte den Mitarbeitern gegenüber offen anzusprechen und Bedenken im Gespräch aus dem Weg zu räumen ist deshalb AUCH Teil der Change Kommunikation und der Weitbildung anlässlich der Einführung der neuen Software. Die spielt sich jedoch auf einem ganz anderen Level ab und erfordert eine andere Herangehensweise.
Meiner Meinung nach sollten sowohl Weiterbildungsanbieter in ihrer Rolle als externe Berater und Impulsgeber als auch die L&D Abteilung Training als ein Produkt, also als etwas Ganzheitliches verstehen, das dem Lerner einen klar erkennbaren Mehrwert bietet. L&D Mitarbeiter wären nach diesem Verständnis also Produktmanager für bestimmte Trainings.

Welche Akteure sollten bei der Identifizierung der Bedarfe aus Ihrer Sicht in jedem Fall zusammenkommen und sich austauschen?
Kirsten Wessendorf: Ich denke, dass in jedem Fall alle Unternehmensbereiche zusammenkommen sollten, die von der Weiterbildungsmaßnahme tangiert werden. Wichtig ist, dass die tatsächliche Lernerzielgruppe möglichst früh in den Erstellungsprozess einbezogen wird, sodass die tatsächlichen Bedarfe und Anforderungen ermittelt werden können. Schließlich sollte der Lerner selbst mit seinem individuellen Vorwissen bei jedem Weiterbildungsprojekt gemäß dem Designthinking-Ansatz im Mittelpunkt des Lernökosystems stehen. Dem gerecht zu werden, ist natürlich ein ziemlich hoher Anspruch. Aber ich bin der Meinung, dass es sich lohnt, dieses Ziel konstant zu verfolgen.
Grundsätzlich sollte das Thema Training nie Aufgabe einer einzelnen Abteilung sein, sondern vernetzt angegangen werden, obwohl L&D sicher als der Motor der meisten Trainingsprojekte gelten kann.

Es kann auch spannend sein, wenn externe Personen aus anderen Branchen eingebunden werden, um ihre Perspektiven aufzuzeigen. Dabei kann es sich auch um Berater handeln, die ein Weiterbildungsprojekt mit Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen Branchen bereichern können. Zum anderen stellt sich ein generationenübergreifender Austausch in der Regel als fruchtbar heraus, wenn die alten Hasen die Erfahrungen mitbringen und die neuen Kollegen frisch von der Uni die aktuellen Forschungsergebnisse beisteuern.

Ich bin außerdem immer wieder begeistert davon, wie in einigen Unternehmen Fach-Communities entstehen, in denen sich Kollegen zu den Best Practices innerhalb der Firma austauschen. In diesen Communities sprudeln die guten Ideen förmlich. Der Austausch unter den Mitarbeitern läuft dabei größtenteils selbstgesteuert. Die Rolle der Organisation besteht vor allem darin, die Infrastruktur und Kultur zu schaffen, die für einen fruchtbaren Austausch notwendig ist. In manchen Fällen kann es auch sinnvoll sein, Community-Moderatoren einzusetzen.

Das klingt spannend, zumal das Wort "Veränderung", im gesamten Interview unterschwellig mitschwingt. Veränderung setzt natürlich in erster Linie Flexibilität voraus. Wie flexibel anpassbar sollte eine bereits laufendende Weiterbildungsstrategie sein?
Kirsten Wessendorf: Sehr flexibel, aber gleichzeitig auch stabil und zuverlässig. Sehr gut gefällt mir in diesem Zusammenhang das Bild von den zwei Geschwindigkeiten aus der IT. Hier gibt es auf der einen Seite die konstanten Systeme, die sich langsamer entwickeln und die agilen Systeme, die sich kontinuierlich und schnell verändern bzw. ständig neue Technologien aufgreifen. Wenn wir die Analogie zum Weiterbildungsbereich ziehen, lassen sich die beständigen Systeme mit Grundlagenwissen vergleichen, das lange Bestand hat. Das macht einen nicht unbeträchtlichen Teil der Lehrmedien aus. Ein Beispiel dafür sind Inhalte für Compliance, beim Onboarding oder z.B. physikalische Grundlagen.

Die anderen Bestandteile machen Inhalte aus, die nahezu permanent im Fluss sind, sprich die schnell entstehen, sich erweitern oder wieder wegfallen. Diese Kompetenzbausteine erlauben es, mit regelmäßigen Veränderungen Schritt zu halten und agil zu bleiben. Sie stehen für Wissen, das schnell vermittelt werden muss; und zwar oft gleich jetzt, bei der Arbeit, im "Moment of Need". Die
Lernressourcen sind deshalb auch direkt in den Arbeitsprozess "eingebettet", was als "Embedded Learning" bezeichnet wird. Die Formate sind klein, auf flexiblen Wegen und mit beliebigen Endgeräten zu erreichen und liegen an unterschiedlichen Stellen.

Sind die Relevanz und der Mehrwert dieser Mini-Lerneinheiten klar ersichtlich, so rufen sie bei der Mehrheit der Nutzer eine extrem hohe Lernbereitschaft hervor und der Lerner setzt das neue erworbene Wissen direkt in Kompetenz um. Kein Mitarbeiter lernt inmitten des Arbeitsalltags gerne auf Vorrat. Wird jedoch der unmittelbare Nutzen des Gelernten für die aktuelle Aufgabe deutlich, so wird in der Regel tatsächlich gerne gelernt.