Partizipation

Das finnische Bildungssystem unter der Lupe

Sanna Vahtivuori-HänninenBerlin, Oktober 2017 - Beim diesjährigen itslearning & Fronter Nutzertreffen und Fachtag am 14. und 15. November in der ufa-Fabrik in Berlin dreht sich die Keynote um "Das Dynamische Curriculum". Keynote-Speaker Sanna Vahtivuori-Hänninen hat ihre Kerngedanken zum Thema vorab in einem Gespräch zusammengefasst.

Sanna Vahtivuori-Hänninen, Ph.Lic. (Educ.) ist "Project Manager and Advisor to the Permanent Secretary at the Ministry of Education and Culture in Finland" und leitet das Regierungsprogramm der neuen Gesamtschulen. Sie ist außerdem die Generalsekretärin des finnischen Lehrerbildungsforums. Sanna wird über die Strategie und Umsetzung des neuen Lehrplans im finnischen Bildungssystem sprechen und das seit 2016 gültige nationale Curriculum vorstellen. Wir haben sie im Vorfeld zu diesem Umbruch im Bildungssystem befragt.

Sanna, was sind die Hintergründe für die jüngsten Veränderungen im finnischen Bildungssystem und was ist der Kern des neuen Curriculums?

Sanna Vahtivuori-Hänninen: Unser neues nationales Kerncurriculum ist eines unserer Werkzeuge für eine innovative Bildungspolitik. Ich bin sehr froh darüber, dass Finnland seit August 2016 dieses brandaktuelle Kerncurriculum besitzt.

Dieses neue Curriculum schärft die Vision von Bildung für die Zukunft und die dafür nötigen Kompetenzen in der finnischen Gesellschaft. Die Bedeutung dieses Curriculums ist nicht nur, zu definieren, was in Klassenräumen, Schulen oder bei Schulträgern passieren soll, sondern es ist auf die Ideale, Werte und Vorhaben ausgerichtet, die die Gesellschaft beschäftigen werden. Das neue Curriculum ist tatsächlich an der Zukunft ausgerichtet: Zusätzlich, zu dem Definieren von fachbezogenen Lernstandards beschreibt das Curriculum die sieben Felder von erweiterten, querliegenden Kompetenzen. Diese basieren auf den so genannten 21st Century Skills und lauten wie folgt:

  1. Denken und das Lernen lernen;
  2. kulturelle Bildung, Interaktion und Ausdruck;
  3. Auf sich selbst achten, Alltagskompetenzen und Sicherheit;
  4. Multiliteralität;
  5. ICT-Kompetenz;
  6. Kompetenzen für das Arbeitsleben und Entrepreneurship;
  7. Beteiligung, Einfluss und Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft.

Selbstverständlich sind sprachliche und mathematische Fähigkeiten so wichtig wie schon immer, was ich aber hier hervorheben möchte, ist, dass im neuen Kerncurriculum SchülerInnen als aktive Lerner anerkannt werden. Sie werden ins Zentrum jeglicher Lernaktivitäten gerückt.

In unserer sich ständig verändernden Welt werden unsere Kinder und Jugendliche viele neue Herausforderungen meistern müssen. Unter dieser Grundannahme müssen sie komplexe Probleme der Zukunft lösen können. Es ist also essentiell, dass SchülerInnen lernen, sich selbstständig Ziele zu setzen und sowohl unabhängig als auch in Zusammenarbeit mit anderen Probleme lösen – Wissen entsteht überhaupt erst in diesem Prozess.

Das neue Curriculum erkennt deshalb genau so an, dass "sich wohlfühlen" und eine ausgeglichene Entwicklung der Persönlichkeit als auch die Fähigkeit, den Alltag zu bewältigen genauso wichtige Aufgaben des Bildungssystems sind wie die 13 Schulfächer.

Wie wird das neue Curriculum an die Schulen getragen und umgesetzt, damit es auch wirklich bei SchülerInnen ankommt und wirkt?

Sanna Vahtivuori-Hänninen: Da die grundlegende Bildung in Finnland von den Schulträgern vor Ort sichergestellt wird, operieren Schulen unter deren Aufsicht. Das Kerncurriculum ist verbindlich den Schulträgern vorgeschrieben, die wiederum lokale Curricula auf dessen Basis erstellen. Die Schulträger verfügen über große Autonomie in Finnland; Das lokale Curriculum (municipal curriculum) wird entsprechend von den lokalen Bildungsbehörden verantwortet.

Neben der Planung der lokalen Curricula, dem Organisieren von Tests bzw. Leistungsstanderhebungen gehört auch die Auswertung der gewonnenen Daten zwecks Evaluation der Zielerreichung zum lokalen Verantwortungsbereich.

Das Curriculum auf lokaler Ebene ist ein dynamisches und flexibles Dokument, das wie bei einer "Grassroots-Bewegung" aus der Zusammenarbeit von Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern und außerschulischen Bildungsanbietern entsteht.

Sanna Vahtivuori-Hänninen: Die Unterstützung von und das Einbeziehen von Lehrkräften im Erstellungsprozess und die dabei stattfindenden tiefgründigen Diskussionen sind wichtiger als das finale Dokument, das am Ende dabei herauskommt. Der partizipative Entstehungsprozess sorgt für Verbindlichkeit zwischen Lehrkräften und allen beteiligten Akteuren und ist somit die beste Grundlage für die Qualität des Unterrichts.

So genannte Tutoren-Lehrkräfte arbeiten bereits heute in 80% aller finnischen Schulen. Sie unterstützen und begleiten ihre KollegInnen dabei, das neue Curriculum zu implementieren. Sie geben auch Unterstützung beim reflektierten methodisch-didaktischen Einsatz neuer Technologien in Schule und Unterricht.

Das finnische Kerncurriculum beinhaltet keine Vorgaben zu Unterrichtsmethoden, es gibt aber durchaus Beispiele darüber, wie zum Beispiel ICT eingesetzt werden kann. Zusätzlich zu den Tutoren-Lehrkräften gibt es sogenannte Service-Lehrkräfte, die Lehrerfortbildungen an den Schulen durchführen. Besonders in der Gemeinschaftsschule ist Chancengleichheit ein wichtiges Thema, weshalb es keine standardisierten Tests gibt, die die Schulen vergleichen. Das bedeutet, dass Schulleitungen hier eine besonders hohe Verantwortung tragen.

Hinter all diesen Maßnahmen steht der Konsens in Finnland, dass mehrere Modelle ausdrücklich erwünscht sind. Das klappt, wenn hochqualifizierte Lehrkräfte auch entsprechend Verantwortung übernehmen.

In Deutschland ging durch die Presse, dass Finnland die Fächer abschafft, was steckt dahinter?

Sanna Vahtivuori-Hänninen: Besonders an Grundschulen ist die sogenannte horizontale Integration stark ausgeprägt. Es ist aber generell nur ein Minimum von einem fachübergreifenden Kurs vorgeschrieben und die Fächer bleiben bestehen. Fachübergreifendes Unterrichten ist also nur ein kleiner Teil unseres Curriculums aber verschiedene lokalen Bildungsträger haben (und dies wird ausdrücklich erwünscht) verschiedene Ansätze, dies umzusetzen. Viel bedeutsamer ist aber, dass SchülerInnen in das Planen von und in den eigentlichen Unterricht aktiv eingebunden sind.

Schulen organisieren Stunden für solche fachübergreifenden Aktivitäten innerhalb des regulären Schultages. Erste Ergebnisse sind, dass SchülerInnen sehr froh über diese Organsisationsform sind und finden, dass dafür noch zu wenig Zeit vorgesehen wird. Unsere Lehrkräfte haben sehr gute Fähigkeiten und Kompetenzen, aber die Herausforderung bleibt bestehen: Wie soll geteilt und kollaboriert werden? Wie kann "Denkkompetenz" bei SchülerInnen gefördert werden?

Welche Reformen sind in die Wege geleitet worden?

Sanna Vahtivuori-Hänninen: Eine der Reformen, das "Teacher Education Development Programm (TEDP)" verfolgt das Ziel, die Kompetenzen von Lehrkräften weiterzuentwickeln. Für diesen Zweck wurde ein Lehrkräfteentwicklungsforum gegründet. Derzeit reformieren wir die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. Die Einführung von Bildungstechnologien, digitalen Materialien und neuen Lernumgebungen wird durch pädagogisches peer-Trainings begleitet. Jede finnische Lehrkraft bekommt Zugang zu Online-Lernumgebung je nach Kompetenzstand.

Wie kann ICT helfen, das Curriculum umzusetzen und was kann jede Ebene (Bildungsministerium Schulträger, Schule, Lehrkraft etc.) tun?

Sanna Vahtivuori-Hänninen: Das neue finnische Curriculum ist sehr stark an der neuen digitalen Ära samt digitalem Lernen und Schulentwicklung ausgerichtet. Es setzt voraus, dass neuartige Lernumgebungen eingesetzt werden. Digitalisierung bringt viele Werkzeuge für aktive, erfahrungsbasierte und bedeutungsvolles Lernen mit sich und kann den schulische Alltag positiv bereichern. Dafür ist es aber Bedingung, dass Bildungsbehörden, Schulträger, Schulen, Lehrer und Schulleitungen eine gemeinsame Vision haben und zusammen an der Implementierung des Curriculums arbeiten.

Sanna Vahtivuori-Hänninen wird am 15. November 2017, im Rahmen des itslearning & Fronter Nutzertreffens 2017 in Berlin eine Keynote halten und Fragen zum finnischen Curriculum beantworten.