Lerncoaching

Traditionelle Lernmodelle stoßen zunehmend an ihre Grenzen

Judith HilmesLingen, Februar 2025 - Das Thema Lerncoaching spielt in den Schulen eine immer größere Rolle. Doch, weg vom Schlagwort: Was steckt eigentlich dahinter und was würde eine konsequente Umsetzung bedeuten? Bildungsexpertin Judith Hilmes am Ludwig-Windthorst-Haus mit langjähriger Expertise aus der Lehrkräftefortbildung fordert in diesem Zusammenhang "vom traditionellen Frontalunterricht radikal Abstand zu nehmen" und die Verantwortung für die Gestaltung der individuellen Lernprozesse den Schüler:innen zu übertragen. Zahlreiche Beispiele würden zeigen, dass das funktioniert, wenn es mit der nötigen Konsequenz betrieben werde. Allerdings sei auch klar: "Die Geschichte des Bildungssystems zeigt, dass solch tiefgreifende strukturelle Veränderungen Zeit brauchen und oft auf erheblichen Widerstand stoßen."

Was genau bedeutet Lerncoaching im Kontext von Schule?

Judith Hilmes: Als Bildungsexpertin definiere ich Lerncoaching als personenzentrierten Ansatz. Er bietet eine Antwort auf die Herausforderungen unseres Bildungssystems in einer sich schnell verändernden Welt. Es wird deutlich, dass traditionelle Lernmodelle zunehmend an ihre Grenzen stoßen. Deshalb zielt Lerncoaching darauf ab, Lernende zu unterstützen, indem Lernprozesse selbstorganisiert, reflektiert und eigenverantwortlich zu gestalten. Der Lerncoach fungiert dabei nicht als Wissensvermittler, sondern als Prozessbegleiter, der durch gezielte Methoden wie Fragetechniken, Reflexionsimpulse und ressourcenorientierte Interventionen die Selbstlernkompetenz der Lernenden systematisch fördert.
Zentrales Merkmal des Lerncoachings ist die Förderung der Metakognition, also die Fähigkeit der Lernenden, ihre eigenen Lernprozesse bewusst wahrzunehmen, zu analysieren und kontinuierlich zu optimieren. Weiteres Ziel ist das Erkennen und Weiterentwickeln von individuellen Lernstrategien und persönlicher Potenziale und Stärken. Diese Fähigkeiten sind besonders in unserer digitalen und dynamischen Gesellschaft wichtig. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Ziel des Lerncoachings ist, Menschen zu befähigen lebenslang selbstständig, motiviert und erfolgreich lernen zu können. So werden sie in der Lage sein, komplexe Herausforderungen eigenständig zu meistern.

Was bedeutet das in der Praxis: Wie kann in Schulen Lerncoaching praktisch umgesetzt werden?

Judith Hilmes: Lerncoaching in Schulen bedeutet, vom traditionellen Frontalunterricht radikal Abstand zu nehmen und Schüler:innen als aktive Gestalter ihrer Lernprozesse zu verstehen. Die Wutöschingschule in Baden-Württemberg, Preisträger des deutschen Schulpreises, zeigt beispielhaft, wie selbstorganisiertes Lernen konkret umgesetzt werden kann. Es gibt keine Klassenräume. Schüler:innen arbeiten in offenen Lernbüros. Kompetenzraster und Wochenpläne strukturieren das Lernen. Kurzum: Die Lernende arbeiten eigenverantwortlich und individuell an ihren Bildungszielen.
Stefan Ruppaner's provokante These 'Unterricht ist aller Übel Anfang' unterstreicht die Notwendigkeit, das überholte Konstrukt der linearen Wissensvermittlung im Gleichschritt zu dekonstruieren und durch flexible, personalisierte Lernformate zu ersetzen. Anstelle von Lehrvorträgen treten Lernbegleiter, die Schülerinnen und Schüler bei ihren Lernprozessen unterstützen, Reflexionsräume schaffen und individuelle Lernstrategien fördern. Das Ziel ist es, Bildungsinstitutionen von starren Strukturen zu befreien und Lernende zu befähigen, Wissen selbstständig, kritisch und motiviert zu konstruieren.

Das ist sehr radikal. Halten Sie es für realistisch, dass das auch so kommen wird?

Judith Hilmes: Lerncoaching in Schulen ist keine Erfindung der Gegenwart, sondern basiert auf didaktischen Prinzipien, die bereits von reformpädagogischen Denkern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Es handelt sich nicht um einen kurzlebigen Bildungstrend, sondern um einen wissenschaftlich fundierten und mehrfach evaluierten Ansatz, der die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung von Lernenden in den Mittelpunkt stellt.
Zahlreiche internationale Studien belegen die Wirksamkeit dieser Methode, die Lernende als aktive Gestalter ihrer Bildungsprozesse versteht und nicht als passive Empfänger von Wissen. Dieser Ansatz findet international zunehmend Beachtung. Im Rahmen von unseren Erasmus+ Projekten wurden verschiedene innovative Konzepte sichtbar, die selbstorganisiertes Lernen unterstützen. Beispielsweise in Finnland und Dänemark.
Besonders interessant ist dabei der Ansatz der Architektur als 'dritter Pädagoge' nach Loris Malaguzzi: Räume werden nicht mehr als neutrale Kulissen, sondern als aktive Lernumgebungen gestaltet, die Selbstständigkeit, Kreativität und Kommunikation fördern. Die Architektur spielt bei der Umsetzung eine entscheidende Rolle: Offene, flexible Lernräume mit verschiedenen Zonen für Einzel-, Paar- und Gruppenarbeit unterstützen unterschiedliche Lerntypen und -bedürfnisse. Internationale Studien zeigen, dass dieser Ansatz die Motivation, Kreativität und Selbstlernkompetenz von Schülerinnen und Schülern nachhaltig steigert.
Um die Frage kurz zu beantworten: Ja und Nein - Lerncoaching in Schulen ist ein Ansatz mit beeindruckenden Erfolgen und gleichzeitig einer großen Herausforderung für das traditionelle Bildungssystem. Landesweite Vergleichsstudien belegen eindrucksvoll die hervorragenden Lernleistungen von Schülerinnen und Schülern an Schulen, die selbstorganisierte Lernkonzepte konsequent umsetzen. Die Geschichte des Bildungssystems zeigt jedoch auch, dass solch tiefgreifende strukturelle Veränderungen Zeit brauchen und oft auf erheblichen Widerstand stoßen.