Wie sich der Weg zur Digital School klug gestalten lässt
Saarbrücken, September 2017 - Diana Dikke hat als Senior Research Professional bei der IMC AG das EU-Projekt Go-Lab, das Schülern in ganz Europa Zugang zu Online-Laboren zu verschiedensten Themen bietet, mitbegleitet. Im Interview berichtet die Expertin für Innovation und Forschung im Bereich der digitalen Weiterbildung über den Nachholbedarf an deutschen Schulen, was das Lernen mit digitalen Medien angeht und verrät, wie Schulen und Lehrer mithilfe von Online-Laboren und des Flipped-Classroom Ansatzes die Unterrichtszeit lebendiger gestalten und gleichzeitig effizienter nutzen können.
Welchen Stellenwert besitzen eLearning und digitale Lernumgebungen heute im Unterricht an deutschen Schulen?
Diana Dikke: Digitale Lernumgebungen und Content werden momentan in deutschen Schulen kaum genutzt. Auch einen zentralisierten, durch die Bildungsministerien oder durch die Schulleitung koordinierten und geförderten Einsatz digitaler Lernkonzepte gibt es bislang nicht. Hinzu kommt die mangelhafte IT-Ausstattung zahlreicher Schulen. Trotz dieser Missstände lassen sich allerdings auch diverse Beispiele für positive Einzelinitiativen anführen, die häufig durch die Lehrkräfte selbst vorangetrieben werden. Zum Beispiel integrieren manche Lehrer digitale Medien in Eigenregie in den Unterricht. Es gibt auch teilweise sehr engagierte Lehrkräfte, die den Einsatz digitaler Medien innerhalb ihrer Schule oder sogar auf regionaler Ebene vorantreiben.
Ein sehr gutes Beispiel für das tatkräftige Engagement seitens der Lehrer ist ein Projekt, das an der Gemeinschaftsschule Bellevue in Saarbrücken 2002 gestartet wurde. Von den Lehrern selbst wurde dort eine Lernumgebung konzipiert und basierend auf Microsoft SharePoint umgesetzt, wobei Microsoft das Projekt als Partner begleitet und die Lizenzen kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Derzeit sind über diese Plattform 80.000 Lerninhalte verfügbar, die von den Lehrern erstellt wurden. Mitgenutzt wird die Lernumgebung derzeit von mehr als 30 Einrichtungen im Saarland. Darüber hinaus existieren Einzelinitiativen von Branchenverbänden wie dem Bitkom (Smart School) oder seitens der Bildungsministerien (z.B. Schul-Cloud Projekt) zur Förderung von Digital Schools in Deutschland.
Wenn es künftig in Deutschland, auch von oberster politischer Ebene aus getrieben, darum gehen soll, das Konzept Digital School zu fördern, dann wird dies auch einen erhöhten Schulungsbedarf für Lehrer mit sich bringen. Diese müssen nicht nur verstehen, wie man ein bestimmtes Tool bedient, sondern vor allem, wie sich digitale Medien sinnvoll in den Unterricht einbinden lassen und wie sich mit angepassten didaktischen Szenarien ein Mehrwert für den Unterricht schaffen lässt. Mehrere solche Projekte, die zum einen die Einführung digitaler Medien im Unterricht fördern und zum anderen die Lehrer darin unterstützen, diese Medien zu nutzen, existieren bereits auf europäischer Ebene.
Beispiele dafür sind das Projekt Go-Lab und sein Nachfolgeprojekt Next-Lab, die Schulen Zugang zu zahlreichen Online-Laboren bieten und die Lehrer in 30 Europäischen Ländern ausbilden. Ein weiteres interessantes Projekt ist Future Classroom Lab. Dieses Projekt zeigt, wie das Klassenzimmer der Zukunft ausgestattet werden kann, und das nicht nur im Sinne von interaktiven Whiteboards und programmierbaren Robotern, sondern von A-Z, beginnend mit der Raumverteilung für analoges und digitales Lernen, Plätzen für Gruppenarbeit, beweglichen Sitzplätzen usw. Dahinter steckt ein ganz anderes Lehr-Lern-Konzept als beim klassischen Frontalunterricht.
Gibt es aus Ihrer Sicht Fächer, in denen digitale Medien im Unterricht eine wichtigere Rolle spielen als in anderen? Und: In welchen Fächern besteht Nachholbedarf, was den Umgang mit digitalen Medien angeht?
Diana Dikke: Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass der Einsatz digitaler Medien ein großes Potenzial für alle Fächer bietet. Für MINT-Fächer lassen sich zum Beispiel virtuelle und ferngesteuerte Online-Labore verwenden, für den Sprachunterricht Tools zum Wortschatz- und Aussprachetraining, für Geschichte Lehrfilme und ähnliches. Nicht zu vergessen sind multimediale Inhalte, die im Internet kostenlos zur Verfügung stehen und im Unterricht verwendet werden können. Tools, die den Lernern Interaktionsmöglichkeiten bieten, besitzen einen besonders hohen Mehrwert, da sie die Schüler aktiv in den Lernprozess einbinden und ihnen die Freiheit bieten, verschiedene Lösungswege auszutesten. Das wiederum hält die Motivation hoch und fördert den Spaß am Lernen.
Darüber hinaus konnte im Rahmen von Studien gezeigt werden, dass sich die Kombination von Online Tools und klassischem Präsenzunterricht positiv auf den Lernerfolg beziehungsweise die Lerneffizienz auswirkt. So haben Untersuchungen aus der kognitiven Psychologie gezeigt, dass Schüler mehr und besser lernen, wenn sie Online-Labore verwenden, als wenn sie nur dem Frontalunterricht folgen. Zudem haben die Schüler in Online-Laboren über Simulationstools die Möglichkeit, auch solche Experimente durchzuführen, die im realen Schullabor zu gefährlich oder zu teuer wären. Selbstverständlich heißt das nicht, dass Online-Labore die klassischen Schulexperimente ablösen sollen. Sie sollen sie nur sinnvoll ergänzen.
Einen Nachholbedarf sehe ich in allen Fächern, was die tatsächliche Einführung von digitalen Medien beziehungsweise Online-Laboren in den Schulen angeht. Es gibt natürlich europäische und nationale Innovationsprojekte und nicht-kommerzielle und kommerzielle Anbieter, die Lernumgebungen, Anwendungen, Apps und Inhalte für Schulen anbieten. Aber solange diese Angebote nicht tatsächlich in den Schulen ankommen beziehungsweise erprobt, verbessert und in den Unterricht integriert werden, bleiben wir auf demselben Stand.
Welche Kompetenzen lassen sich aus Ihrer Sicht gut oder am besten über digitale Medien vermitteln?
Diana Dikke: Welche Kompetenzen sich "am besten" vermitteln lassen, lässt sich nicht pauschalisieren. Aber es existieren verschiedene Tools, die beispielsweise experimentbasiertes und projektbasiertes Lernen unterstützen, die Sprachkompetenzen verbessern, die Programmierfähigkeiten vermitteln uvm. Ein neuer Trend sind Anwendungen, die die Entwicklung sogenannter "21st century skills" unterstützen, das heißt Kompetenzen, die man als (zukünftiger) Arbeitnehmer oder Unternehmer heute besonders schätzt wie zum Beispiel kollaborative Fähigkeiten, Leadership, Unternehmergeist, Planungsfähigkeiten und Reflektion.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Möglichkeit, den "perfekten Unterricht mit digitalen Medien" zu gestalten. Wie würde dieser aussehen?
Diana Dikke: Ich persönlich bin ein großer Fan des "Flipped Classroom", der sich hervorragend mit digitalen Elementen anreichern lässt. Dabei wird die Theorie für eine kommende Unterrichtsstunde von den Schülern selbst zu Hause bearbeitet, wobei natürlich auch gerne digitale Medien, das heißt digitale Bücher mit verlinkten Inhalten, Glossaren und Erklärvideos oder digital bereitgestellte Übungen zum Einsatz kommen können. Die Unterrichtsstunde nutzt die Lehrperson dann, um mit den Schülern Fragen zu klären und die wichtigsten Punkte zu diskutieren. So bleibt mehr Zeit für praktische Übungen und Gruppenarbeit.
Hier kämen digitale Lernszenarien zum Einsatz, die individuell oder in Gruppen bearbeitet werden können, und die Theorie vertiefen und praktische Fertigkeiten vermitteln. Da die Bearbeitung im Klassenzimmer stattfindet, hat die Lehrperson jederzeit die Möglichkeit, die Schüler anzuleiten und zu unterstützen. Im Idealfall bleibt am Ende der Unterrichtsstunde noch ausreichend Zeit, um die Ergebnisse der Klasse vorzustellen und mit den Mitschülern zu diskutieren.
Next-Lab wird als Nachfolgeprojekt des erfolgreich abgeschlossenen Go-Lab Projektes von der EU gefördert. Das Projekt wird von der IMC AG als Technologiepartner mit unterstützt. Was ist das Besondere an Next-Lab und wie kann es dazu beitragen, die Digital School Wirklichkeit werden zu lassen?
Diana Dikke: Next-Lab bietet die größte Auswahl von Online-Laboren (ferngesteuerte Labore, das heißt real existierende Labore in Forschungseinrichtungen, die allerdings mithilfe eines Web- Interface von überall auf der Welt gesteuert werden können, Simulationen, wissenschaftliche Datenbanken und Analysewerkzeuge) von Anbietern aus der ganzen Welt. Derzeit sind knapp 500 Labore in rund 40 Sprachen verfügbar, deren Zahl jeden Monat steigt. Ziel des Next-Lab Projektes ist es, den Schülern die Möglichkeit zu geben, als Wissenschaftler zu agieren und Experimente eigenständig (unterstützt durch die von den Lehrern erstellten Szenarien) vorzubereiten, durchzuführen und nachzubereiten. Dies soll zu höherer Motivation und besserer Wissensaneignung führen, das Interesse der Schüler an Forschung wecken und sie dazu motivieren, eine wissenschaftliche Karriere anzustreben.
Ein wesentliches Ziel des Projektes ist es, Lehrkräften zu vermitteln, wie sich Online-Labore didaktisch sinnvoll in Unterrichtsszenarien einbinden lassen. In sogenannten "Inquiry Learning Spaces" haben Lehrer die Möglichkeit, multimediale Lerninhalte je nach Schulfach, Themengebiet und Altersgruppe der Schüler selbst zusammenzustellen. Ein Inquiry Learning Space wird typischerweise in fünf Lernphasen unterteilt: Orientierung, Konzeption,
Experiment, Zusammenfassung und Diskussion. Jede Phase beinhaltet multimediale Lerninhalte, die von der Lehrkraft ausgewählt worden sind. Next-Lab stellt Anwendungen zur Unterstützung eines solchen Szenarios für experimentbasiertes Lernen bereit. Diese umfassen z.B. Anwendungen zur Formulierung von Hypothesen und Forschungsfragen, Design von Experimenten, Datenvisualisierung uvm. So werden Schüler in jedem Schritt des Forschungsprozesses angeleitet und unterstützt. Außerdem sind zahlreiche Berichte basierend auf Learning Analytics für Lehrer verfügbar, so dass diese jederzeit Informationen zum Fortschritt jedes Schülers abrufen und, wenn nötig, sofort Hilfestellung bieten können.
Sowohl die Lehrer als auch die Schüler, die Next-Lab nutzen, sind vom Projekt durchweg begeistert. Einige Lehrer berichteten im Rahmen qualitativer Umfragen, dass sie dank der Online-Labore mehr Experimente in den Unterricht einbinden können, und dadurch in der Lage sind, den Unterricht attraktiver zu gestalten und Wissen nachhaltiger zu vermitteln. Im Anschluss an Next-Lab ist auch bereits ein Nachfolgeprojekt namens GO-GA (Go-Lab Goes Afrika) geplant, das in den afrikanischen Ländern Kenia, Nigeria und Benin durchgeführt werden soll.