Die Bildung mit Hilfe von Technologie neu erfinden
Karlsruhe, Januar 2019 – (von Kerstin Seegmüller) Am 29. Januar 2019 hält Johannes Heinlein, Vice President of Strategic Partnership bei edX (USA) auf der LEARNTEC eine Keynote zum Thema "Reimagining Education". Im Interview gibt er bereits einen Einblick in die (Weiter-)Bildungsdiskussion, die ihn bewegt.
Herr Heinlein, der Titel Ihrer Keynote lautet "Reimagining Education". Sie wollen also Bildung neu erfinden. Was ist falsch an den heutigen Ansätzen?
Johannes Heinlein: Die digitale Technologie hat unzählige Lebensbereiche verändert – vom Gesundheitswesen über die Produktivität am Arbeitsplatz bis hin zur Unterhaltung und dem Verlagswesen. Bildung dagegen ist weitgehend gleich geblieben. Wir von edX sind ein gemeinnütziger, von Harvard und MIT gegründeter MOOC-Anbieter – also Massive Open Course – und wollen die Bildung mit Hilfe von Technologie neu erfinden. Unsere Mission besteht darin, jedermann einen Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung zu ermöglichen, um das Lehren und Lernen sowohl online als auch auf dem Campus zu verbessern und die Forschung voranzutreiben.
Sie wollen also modern sein. Aber mit MOOCs bieten Sie doch selbst eine veraltete Technologie an, oder?
Johannes Heinlein: Sie haben recht: MOOCs gibt es schon seit einigen Jahren, aber jetzt haben sie einen neuen Motor unter der Haube. Man kann sie mit Autos vergleichen: Die laufen heute mit Elektromotoren und haben eine ganz andere Ausstattung als vor 100 Jahren. Mit unserem Ansatz verfolgen wir das gleiche Ziel: Es geht darum, wie wir miteinander und mit neuen Technologien umgehen, aber auch darum, uns auf das Ergebnis zu konzentrieren. Heute sind MOOCs komplexer und höher entwickelt als je zuvor – für die Lernenden ist das ein großer Vorteil. Doch das Umdenken in der Ausbildung ist ein evolutionärer Prozess, eine Revolution, und es dauert seine Zeit, bis ein fertiges Produkt entwickelt ist. Bei unserem Ansatz konzentrieren wir uns auf akademische Einrichtungen und helfen ihnen, neue Technologien und Herangehensweisen in ihr traditionelles Lernen zu integrieren. Heutzutage bieten Institutionen mit MOOCs einen Zugang zu Bildung, den Sie normalerweise nur auf dem Campus erhalten.
Woher kommen die Inhalte?
Johannes Heinlein: Wir arbeiten mit Institutionen wie Harvard, MIT, Oxford, der RWTH Aachen, der TU München und vielen anderen zusammen. Unsere Partner nutzen unsere Plattform und unser Lernmanagementsystem, um ihre Lerninhalte für Millionen von Usern auf der ganzen Welt bereitzustellen.
Sie bieten viele unterschiedliche Themen an. Werden IT-Kurse stärker nachgefragt als andere?
Johannes Heinlein: Auf unserer Plattform finden Sie über 2.000 Kurse, und das Verhältnis von technologischen zu anderen Themen ist ausgewogen. Mehr als 18 Millionen Lernende belegen die unterschiedlichsten Kurse – von IT bis Architektur, von Politikwissenschaften bis Shakespeare, von Biologie bis Kunst. Die Technik-Anpassung übernehmen Menschen aus dem jeweiligen Themenbereich. Die Kurse und Programme helfen Lernenden aus allen Branchen dabei, neue Kenntnisse zu erwerben und ihre Arbeit zu optimieren.
Können Sie etwas mehr über Ihre Partnerschaften erzählen?
Johannes Heinlein: Gerne. Frankreich beispielsweise hat eine nationale Lernplattform namens FUN mit Millionen von Lernenden entwickelt. Auch China hat mit Xuetang eine nationale Plattform geschaffen. Ganze Nationen richten Online-Lernplattformen ein, die ihren Bürgern Zugang zu Online-Bildung und Lernerfahrungen bieten.
Warum sollten MIT, Harvard und andere ihre Highend-Kurse teilen?
Johannes Heinlein: Unserer Ansicht nach ist der Zugang zu Bildung ein Menschenrecht. Keine Organisation kann das allein erreichen. Universitäten, Unternehmen und Ministerien können gemeinsam Inhalte und Lernmöglichkeiten bieten.
Aber es ist teuer, gute Inhalte zu erstellen. Und Sie müssen auch Geld verdienen. Welches Geschäftsmodell steckt dahinter?
Johannes Heinlein: Sie können sich für fast jeden Kurs kostenlos einschreiben und Material in Form von Vorträgen, Videos und Diskussionsforen nutzen. Wenn Sie als Nachweis Ihrer Qualifikation jedoch ein Zertifikat benötigen, müssen Sie dafür zahlen. Studenten beispielsweise können Zertifikate unseres Micromasters-Programms erwerben. Es handelt sich um eine Reihe von Kursen für Absolventen, die damit ihre Karrierechancen verbessern wollen. Mit diesen Kursen können die Teilnehmer ihr Wissen in einem bestimmten Berufsfeld vertiefen – die Zertifikate werden von Arbeitgebern anerkannt. Zudem können sich die Kandidaten mit solchen Credits an einer Universität bewerben und ihren Master-Abschluss schneller und günstiger erwerben.
Was ist mit Deutschland?
Johannes Heinlein: In Deutschland ist das Erststudium kostenlos, aber in den USA zahlen Sie 60.000 US-Dollar für einen vollständigen Master-Abschluss. Um dieses Problem zu lösen, haben wir kürzlich neun vollständige Online-Masterstudiengänge angekündigt, beispielsweise an der Arizona State University, am Georgia Institute of Technology, an der University of California und der Universtity of Queensland, zusammen mit einem Master der University of Edinburgh. Die Programme behandeln gefragte Themen wie etwa Data Science, Cybersecurity, Informatik, Analytik und Supply Chain Management. Drei dieser Programme sind unter den Top Ten und werden für 10.000 US-Dollar oder weniger angeboten.
Ich könnte also einfach auf Ihre Plattform gehen und mich etwa für ein MIT-Programm anmelden?
Johannes Heinlein: Ja. Sie können sich ohne Tests oder andere Anforderungen einschreiben. Auf dem Campus ginge das nicht.
Sie sprechen von "In-Demand"-Lernen. Was meinen Sie damit? Ich kenne nur "On-Demand".
Johannes Heinlein: In-Demand bedeutet, dass wir mit Unternehmen, Regierungen und Universitäten zusammenarbeiten, damit die Inhalte dem Kompetenzbedarf von Mitarbeitern und Studenten entsprechen. Für die neuen, modularen Nachweise wird das relevante Know-how von Institutionen und Unternehmen gebündelt und den Lernenden zur Verfügung gestellt. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Menschen erwarten Antworten in Echtzeit durch die Google-Suche oder Gespräche. Das ist On-Demand. In-Demand bedeutet, die richtigen Fragen zu stellen.
Bisher fand das Lernen in Hochschulen und Unternehmen in zwei Welten statt. Wie bringt man sie zusammen?
Johannes Heinlein: Viele Unternehmen und Institutionen wie Microsoft, Amazon, IBM, Amnesty International und der Internationale Währungsfonds arbeiten mit akademischen Partnern zusammen, um neue Inhalte, Karrieremöglichkeiten oder Lernbedingungen zu ermitteln. Sie können zum Beispiel einen Harvard-Kurs und ein Micromasters-Programm der RWTH Aachen absolvieren und einen Kurs bei IBM belegen – alles auf einer Plattform.
Aber teilen Unternehmen wirklich Inhalte mit anderen, sogar mit Wettbewerbern?
Johannes Heinlein: Ja, weil es beiden Seiten Vorteile bietet und neue Beschäftigungsmöglichkeiten schafft. Wir bringen B2B-Lernen in die Unternehmen. Mitarbeiter von Großunternehmen greifen auf das Kursangebot anderer Großunternehmen zu, um ihre Leistung zu verbessern. Unternehmen teilen Inhalte und passen sie an ihren Bedarf an. Zum Beispiel benötigen Sie als Journalistin unterschiedliche Kompetenzen – je nach dem, ob Sie für Zeitungen, Fernsehen, Radio oder Online-Medien arbeiten. Dementsprechend verändert sich die Ausbildung im Journalismus. Immer mehr Karrierewege sind hochspezialisiert. Ein Studium oder eine Ausbildung, die für das ganze Berufsleben ausreicht, wird immer unwahrscheinlicher.
Wie können Sie mit MOOCs die Produktivität am Arbeitsplatz steigern?
Johannes Heinlein: Menschen sollten aus Freude am Lernen lernen und Content zu privaten Interessen wie etwa Kunst oder Fotografie finden können. Deshalb bieten wir Inhalte in Zeichnen, Kunst, Literatur und vielem mehr. Wir stellen aber auch Kurse und Programme für die berufliche Entwicklung bereit, damit sich die Teilnehmer in Ihrer derzeitigen Karriere verbessern oder in einen neuen, vielleicht besser bezahlten Job wechseln können. In beiden Fällen möchten wir eine positive Lernerfahrungen ermöglichen, da die heutige Ausbildung vielen Bedürfnissen nicht mehr gerecht wird.
Nach welchen Kriterien definieren Sie "positive Lernerfahrungen"?
Johannes Heinlein: Positive Lernerfahrungen erreichen wir, wenn wir aus der Perspektive der User lehren. Es gibt viele Studien, wie innovative Technologien Karrierechancen und das Leben an sich verbessern. Inzwischen haben 100.000 Teilnehmer ihre Kurse abgeschlossen. Jetzt haben sie neue Jobs, sind produktiver und vielleicht sogar bessere Bürger.
Wieso bessere Bürger?
Johannes Heinlein: Lernen kann nicht nur die Karriere fördern, sondern berührt auch sozialpolitische Aspekte. Einer unserer Teilnehmer beispielsweise hat Kurse in Solarenergie absolviert und versorgt nun sein ganzes Dorf mit Strom.