Unterricht ist keine App

Bildung kann man nicht herunterladen

Peter BaumgartnerAltmünster, Mai 2019 - Warnt uns jemand vor den Irrtümern der Digitalisierung? Ist irgendwer mutig genug, um die digitalen Lernwelten kritisch zu betrachten? Gesteht jemand den Menschen in der Digitalisierung analoge Bedürfnisse zu? Peter Baumgartner ist Dipl.-Pädagoge und Wirtschaftsingenieur. Der Vortragsredner, fünffache Buchautor und Wirtschaftsliteraturpreisträger ist im Bildungsbereich sowie in der Wirtschaft als Berater und Managementcoach tätig. Er unterrichtet an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich und mehreren Hochschulen und Schulen in Europa. Digitalisierung, Transformation und Kommunikation sind seine Kernthemen, über die er hier und auf Bildungskongressen spricht.

Die Irrtümer der Digitalisierung

Irrtum 1: Die Digitalisierung macht uns alle glücklicher
Unsere täglichen Aufgaben werden durch die digitalen Einflüsse nicht automatisch einfacher. Oft nimmt das Gefühl der Kontrolle und Überwachung zu. Wir müssen hier klar gegensteuern. Unsere Antwort auf die Herausforderungen kann nur der intelligente und motivierte Mensch sein, der das Werkzeug Digitalisierung verantwortungsvoll einsetzt.

Irrtum 2: Wo 4.0 draufsteht, ist Digitalisierung drin
Medien und Politik übertreffen sich oftmals in wichtigmachenden und inhaltslosen Darstellungen. Bildung 4.0, Workplace 4.0 und vieles andere suggeriert, es handle sich hier um grundlegend neue Arten Dinge zu tun. So manches Modell wird digitalisiert, indem man einfach vorne "digital" oder hinten "4.0" einfügt.

Irrtum 3: Reisen ins Silicon Valley sind die Lösung
Es ist modern, ins Silicon Valley zu reisen, den Stand der Dinge zu kopieren und auf die eigene Situation umzulegen. Neue IT-Ansätze, Cloud-Lösungen und Individualisierungen sind aber nur in agilen Organisationen schnell umsetzbar. Starre Organisationsstrukturen, wie es auch oft Bildungseinrichtungen sind, scheitern alleine an der Technologie.

Irrtum 4: Eine grandiose digitale Geschwindigkeitssteigerung
Nur ein Beispiel: Die Service-Zeiten stagnieren oder gehen allgemein zurück. Wenn wir an diese unvermeidlichen Service-Telefonnummern denken, dann sind wir zum Aufenthalt im Wartesaal verdammt, bis uns die freundliche Ansage nach 20 Minuten volldigitalisiert aus der Leitung wirft. Zurück an den Start und tschüss Geschwindigkeit.

Irrtum 5: Die Digitalisierung als smartes und effizientes Werkzeug
Aktuell benötigen wir weltweit das Energieäquivalent von 25 Atomkraftwerken, um den Energiehunger der Digitalisierung zu stillen. Der Schadstoffausstoß unserer Digitalisierung ist so groß, wie der des weltweiten Flugverkehrs. Bei einer Steigerungsrate von jährlich zehn Prozent. Smart und effizient ist das nicht.

Irrtum 6: Die Digitalisierung und die neue Lernwelt
Dem Bildungswesen fällt eine zentrale Aufgabe zu. Dabei geht es nicht um Techniken und die Nutzung von Smartphone oder Tablet. Viele wissen noch nicht, was sie denken sollen, sie ahnen aber, das Digitalisierung mehr Bildung und Qualifizierung benötigt. Mehr und mehr werden einfache Tätigkeiten verschwinden. Die Zukunft gehört den hoch qualifizierten Berufen. Es geht um den Umgang mit der Intelligenz der Vielen. Es bleibt spannend und Bildung bleibt wichtig.

Irrtum 7: Die Digitalisierung als Wundermittel
Mit den Millennials gibt es erstmals eine Generation, die in einer "wunderbaren" Smartphone-Internet-Facebook-Instagram-Welt groß geworden ist. Die Mitglieder dieser Generation zeigen anderen öffentlich wie toll das Leben ist, selbst dann, wenn sie selbst deprimiert sind. Alles geht schnell und leicht. Alles, was man will, kann man sofort haben, außer Befriedigung im Job und starke Beziehungen. Dafür gibt es keine App. Und wird es niemals eine geben.

 

Digitale Lernwelten - was sonst?

Digitale Lernwelten sind ultramodern, total angesagt und damit über jede Kritik erhaben. Genug geträumt, die Realität sieht zunehmend anders aus:

Deutschland: Die Digitalisierung macht uns alle glücklicher, das meinen wohl die Regierungsmitglieder in Berlin. Noch. Fünf Milliarden Euro will die Bundesregierung für das „Digitalpaket#D“ bis 2022 an Schulen ausgeben. Doch fehlt der nötige Konsens, ob der Unterricht generell digital gestaltet werden soll. Nur zehn Prozent der Lehrer setzen Lern-Apps oder digitale Lernspiele ein. Nur jeder vierte Lehrer glaubt, dass digitale Medien sich positiv auf den Lernerfolg auswirken. Aber fünf Milliarden später werden auch andere diesen Wissensstand haben.

Österreich: In der Alpenrepublik ist beinahe jedes zweite Kind kurzsichtig. Tendenz steigend, warnen die Augenoptiker. Für die Entwicklung des Auges wären zwei Stunden Aufenthalt im Freien pro Tag optimal, weil der Blick dabei in die Ferne gehe und einen Ausgleich schaffe. Im Gegenzug dazu sollen Kinder nicht mehr als eine Stunde vor Handy- oder Computer-Bildschirmen sitzen. Das Ausmaß der Computer-Arbeitszeit weiter zu steigern sei extrem zu hinterfragen, so die Experten. Das digitale Klassenzimmer ist in ihren Augen ein Horror.

Niederlande: Heute rudern in den Niederlanden die Digitalisierung-Anhänger zurück. Von den im Jahr 2013 famos gestarteten Steve-Jobs-Schulen sind heute kaum mehr "iPad-Schulen" übrig. Den Namen Steve-Jobs tragen sie schon nicht mehr. Das völlig selbstbestimmte Lernen am Computer vernachlässige nämlich das Basiswissen und die Grundfähigkeiten. Kinder aus den iPad-Schulen die an andere Schulen wechseln, hinken angeblich der Vergleichsgruppe hinterher.
Ein Amsterdamer Schulbuchverleger beobachtet, dass das digitale Lernen deutlich langsamer zunimmt als vor zehn Jahren prognostiziert. Die Uni Amsterdam hat zudem erforscht, dass das rein digitale Lernen allein in Mathematik einen Motivationsschub gab, nicht aber in anderen Fächern. Eltern sehen sich in Amsterdam nach Schulen für Ihre Kinder um und berichten dann Reportern. "Stellen Sie sich das mal vor, nur Computer, keine Bücher. Das ist doch verrückt."

Vereinigte Staaten: Wenn Sie ins Silicon Valley reisen und alles über die Digitalisierungsexperten wissen wollen, dann besuchen Sie dort bitte die Schule in Los Altos. Es ist eine Waldorfschule. Die Kinder der digitalen Elite lernen ohne Bildschirme, aber mit menschlicher Interaktion und handwerklicher Arbeit.

Grenzenloses Handeln: Wir müssen ganz schnell erkennen, dass die Digitalisierung die Kompetenzen und Grenzen der Schule überschreitet. Heute ist Mobbing nicht mehr nur auf die Schule beschränkt. Mobbing macht nicht einmal mehr vor der Haustür oder sogar der Kinderzimmertür halt. Die Gemeinheiten der Klassenkollegen reichen durch die digitalen Errungenschaften und sozialen Medien bis unter die Bettdecke.

 

Digitalisierte Menschen und analoge Befürfnisse

Wenn wir heute Leistung verlangen und fordern, müssen wir anderen vor allem Sinn und Orientierung bieten können. Es geht nicht darum, jede Klasse mit Laptops oder Tablets auszustatten. Es geht nicht darum, Whiteboards zu installieren und damit jedes Wort erst dann an die "Tafel" schreiben zu können, wenn dieses Superteil eingeschaltet ist.

Es geht darum, Grundfähigkeiten und Kernkompetenzen zu vermitteln und die Digitalisierung als bloßes Werkzeug zu sehen. Nicht mehr und nicht weniger.

Digitalisierung ist viel weniger Technologie und vielmehr Bildungskultur als jemals erhofft. Das ist gut so. Das ist die Umkehr. Das ist der Weg hin zu den Soft Skills: Soft Skills sind die harte Währung der Zukunft.

 

Soziale Kompetenz lässt sich nicht digitalisieren

Wir Menschen sind schrecklich analog. Schüler sind zu 100% Menschen und Lehrende sind auch zu 100% Menschen. Wenn wir dementsprechend agieren, sind wir auf einem guten Weg.

Die größten Durchbrüche im 21. Jahrhundert werden nicht durch die Technologie errungen, sondern durch das erweiterte Verständnis unseres Menschseins. -  John Naisbitt

Irgendwie stößt sie Digitalisierung an ihre Grenzen, denn zwischen Bits, Bytes und Online sind wir oft genug allein. Irgendwo ist, unglaublich aber wahr, das Ende des Internets. Irgendwann brauchen wir wieder mehr Gesichter, Stimmen und Persönlichkeiten. Wir brauchen etwas anderes. Etwas Reales: greifbar, spürbar, ... oder eben nur ein Lächeln im Gesicht des Gegenübers.

 

Mutiger Ausblick

Vieles können wir positiv angehen. Was haben Sie bislang in der analogen Bildungswelt geschafft? Wo stehen Sie mit Ihrem Unterricht? Wo wollen Sie hin? Das lässt sich doch gemeinsam schaffen!