"Eine Schule ohne Stress ist eine schlechte Lebensvorbereitung"
Stuttgart, Januar 2017 - Sind Schüler heute gestresster als früher? Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands, spricht über die Auswirkungen von G8, den Leistungsdruck in Mittelschichtfamilien – und den lehrreichen Umgang mit Stress. Heinz-Peter Meidinger referiert auch auf der didacta 2017 in Stuttgart über Schulstress und Leistungsdruck.
Herr Meidinger, seit der Einführung von G8 klagen viele Schüler über eine stärkere Belastung und "Schulstress". Halten Sie das für berechtigt?
Heinz-Peter Meidinger: Ja und nein. Einerseits ist es durch die Schulzeitverkürzung tatsächlich zu einer Verdichtung des Schulstoffs und auch des Schulalltags – beispielsweise durch den verstärkten Nachmittagsunterricht – gekommen, was dazu geführt hat, dass Schülerinnen und Schüler im G8 weniger Freiräume haben. Das trifft insbesondere jene, die Schule sehr ernst nehmen. Andererseits habe ich das Gefühl, dass jedes schulische Problem mittlerweile dem G8 zugeschoben wird, häufig auch zu unrecht.
Ist der Schulstress neben G8 auch durch andere Faktoren zu begründen, wie zum Beispiel gestiegene Anforderungen und einen höheren Leistungsdruck durch Vergleichsarbeiten, PISA etc.?
Heinz-Peter Meidinger: Schulstress, also Zeitdruck, gehört zur Schule, seit es diese Institution gibt. Zum Teil ist er "hausgemacht", weil man zum Beispiel als Schüler nicht rechtzeitig angefangen hat, für die nächste Klausur zu lernen, weil es an der richtigen Lernstrategie fehlt oder auch, weil man trotz Schule nicht auf das ein oder andere Hobby oder Freizeitvergnügen verzichten will. Viele Jugendliche setzen sich selbst unter Druck, etwa aufgrund übergroßen Ehrgeizes. Oft entsteht aber Schulstress auch durch überzogene Erwartungen der Eltern oder auch dadurch, dass Kinder an einer bestimmten Schulart überfordert sind.
Während Eltern früher zufrieden waren, wenn ihre Sprösslinge das Klassenziel bzw. den Abschluss erreichten, glauben viele heute, dass in der modernen Wettbewerbsgesellschaft für den späteren Lebenserfolg möglichst gute Noten nötig sind, beispielsweise ein sehr guter Abiturschnitt. Diese Erwartungshaltung erzeugt Dauerdruck. Dass in der Schule die Anforderungen in den Prüfungen generell gestiegen sind, bezweifle ich. Zwar gibt es mehr landes- und bundesweite Vergleichsarbeiten, gleichzeitig wurde aber in vielen Bundesländern die Zahl der Schulaufgaben, Klausuren und Hausaufgaben in den letzten 20 Jahren abgesenkt.
Wie viel Schulstress "vertragen" Schülerinnen und Schüler?
Heinz-Peter Meidinger: Eine gewisse Stressbewältigungskompetenz gehört letztlich zu den Fähigkeiten, die man für erfolgreiche Bildungsverläufe braucht. Das soll kein Argument dafür sein, Schüler unkontrolliert durch Hausaufgaben, steigende Leistungsanforderungen und dichte Klausurenpläne zu belasten. Aber die Fähigkeit, auch mal die ein oder andere Woche vor Abschlussprüfungen durchzulernen, oder die Härte, mit zeitlich begrenztem Leistungsdruck umzugehen, sind nicht nur in der Schule, sondern auch im späteren Leben eminent wichtig.
Ich glaube, dass ein Grund für so manchen Studienabbruch darin besteht, dass viele Studierende in der Schule bzw. in ihrem bisherigen Leben nicht gelernt haben, mit Stress und Misserfolg umzugehen. Eine Schule völlig ohne Druck und Stress wäre eine denkbar schlechte Studien-, Berufs- und Lebensvorbereitung.
Sie sind selbst Lehrer und Schulleiter: Können Sie den Eindruck eines steigenden Schulstresses für Schüler – vielleicht auch für Eltern und Lehrkräfte – bestätigen?
Heinz-Peter Meidinger: Es gibt Anzeichen dafür, dass in einer bestimmten Bevölkerungsschicht, der bildungsaffinen Mittelschicht, die Angst vor sozialem Abstieg gestiegen ist. Und diese Angst wird dann als Druck auf die eigenen Kinder weitergegeben, im Bildungssystem besser zu sein als andere. Der PISA-Schock hat vor allem dieses soziale Milieu verunsichert. Ich glaube allerdings nicht, dass es allgemein mehr Schulstress gibt. Gerade Abiturientinnen und Abiturienten berichten ja in den Abiturzeitungen gerne rückblickend davon, dass die Schulzeit abgesehen von den paar Wochen vor dem Abitur gar nicht so stressig war, wie behauptet wird.
Auch wenn der Schulstress vielleicht nur in bestimmten Familien zugenommen hat: Müssten Ihrer Meinung nach Maßnahmen getroffen werden, um dieses Phänomen zu reduzieren?
Heinz-Peter Meidinger: Es gibt kein Patentrezept. Schulleitung und Lehrkräfte haben die Pflicht, auf eine gleichmäßige Stoff-, Hausaufgaben- und Klausurenverteilung zu achten, bei den Schülern ist es wichtig, dass sie über die richtigen Lernstrategien verfügen – an meiner Schule bieten wir Kurse zum "Lernen lernen" an – und auch die Eltern sollten ihre Kinder nicht mit eigenen Erwartungshaltungen überfordern.
Mit der Einführung von G8 wollte man unter anderem dem demografischen Wandel begegnen und die Jugendlichen früher in das Arbeitsleben bringen, um international konkurrenzfähig zu sein. Welche pädagogischen Argumente sprechen wiederum für bzw. gegen die verkürzte Schulzeit?
Heinz-Peter Meidinger: Es gibt bis heute kein einziges pädagogisches Argument, das für G8 spricht. Bildung braucht Zeit, Zeit für Üben, Reflektieren, Vertiefen und kritische Auseinandersetzung. Wir müssen unseren Kindern angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen eher mehr Zeit zum Lernen und Reifen bieten als weniger. Letztendlich war es das finanzielle Einsparungspotenzial, das seinerzeit die Finanzminister der Länder und die Ministerpräsidenten zur gymnasialen Schulzeitverkürzung verleitet hat. Das war aber kurzfristig gedacht. Die Qualität unserer Abiturienten ist zehnmal wichtiger als die Frage, ob sie ein Jahr jünger oder älter sind.