Virtuelles Training

Wenn die Kugelbahn am Schaufelradbagger gewechselt werden soll

Magdeburg, November 2012 - Der Einsatz virtueller Technologien bietet eine wertvolle Ergänzung zu bisherigen Qualifizierungsmaßnahmen. Technische Arbeitsprozesse können bereits am virtuellen Modell interaktiv trainiert werden, Funktionsweisen im Inneren von Maschinen und Anlagen werden erlebbar. Dipl.-Ing. Tina Haase vom Fraunhofer IFF (Institut für Fabrikbetrieb) in Magdeburg schildert am 29. Jannuar 2013 um 15.45 Uhr in der Sektion "Technology" des LEARNTEC Kongresses was virtuelle Lernumgebungen so attraktiv macht.




Warum ist der Einsatz virtueller Technologien den bisherigen Qualifizierungsmaßnahmen überlegen?

Tina Haase: Virtuelle Lernumgebungen bieten eine sinnvolle Ergänzung zu konventionellen Schulungen, die meist durch den Einsatz von Folienpräsentationen geprägt sind. Durch die Nutzung virtueller Technologien verändern sich im Seminar die Rollen der Seminarteilnehmer und des Dozenten. Seminarteilnehmer waren bisher oft nur passiv eingebunden. Jetzt arbeiten sie aktiv mit, indem sie z.B. am Laptop Lernaufgaben interaktiv bearbeiten und sich Lösungswege am virtuellen Modell selbst erschließen, mit Unterstützung des Dozenten. Das ist vergleichbar mit realen Erfahrungen im Arbeitsprozess und verbessert den langfristigen Lernerfolg. Der Dozent ist nicht mehr "Alleinunterhalter", sondern wird zum Lernbegleiter.


Die visuellen Möglichkeiten der virtuellen Lernumgebung erhöhen bei den Nutzern das Verständnis für die ablaufenden Prozesse und Zusammenhänge. Das stärkt die Handlungssicherheit und bereitet optimal auf den praktischen Einsatz vor. In der Praxisschulung haben die Teilnehmer dann bereits eine sehr gute Orientierung am technischen Gerät und kennen bereits die durchzuführenden Handlungsabläufe. Die praktische Schulung kann verkürzt werden.


Im Fraunhofer IFF in Magdeburg entwickeln wir seit etwa 15 Jahren virtuelle Lernumgebungen für den industriellen Einsatz. So wurde z.B. für die RWE Power AG ein Schaufelradbagger visualisiert, um am virtuellen Modell die Planung einer Instandhaltungsmaßnahme durchzuführen. Im Rahmen dieser Maßnahme sollte u.a. die riesige Kugelbahn gewechselt werden. Die virtuelle Lernumgebung wird jetzt in der Arbeitsplanung eingesetzt, um die beteiligten Mitarbeiter der verschiedenen Gewerke auf die durchzuführenden Arbeiten vorzubereiten und Abläufe anschaulich zu diskutieren.

In welchen Arbeitsbereichen ist ein virtuelles Training besonders angezeigt und sinnvoll?

Tina Haase: Das Lernen in einer virtuellen Umgebung ist insbesondere dort sinnvoll, wo ein Training an realen Maschinen, Anlagen oder Betriebsmitteln nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. In vielen Arbeitsbereichen geht von den zu bedienenden Maschinen eine hohe Gefahr aus, z.B. bei Hochspannungsbetriebsmitteln. Hier muss jeder Handgriff sitzen. Am virtuellen Modell kann aus Fehlern gelernt werden und die erforderliche Handlungssicherheit gefahrlos entwickelt werden.


Das Nachvollziehen von Prozessen und technischen Funktionen ist an der realen Maschine aufgrund eingeschränkter Sichtverhältnisse oft nicht möglich. Dieses Verständnis ist für viele Arbeitsbereiche, z.B. für die Instandhaltung, eine wichtige Voraussetzung für einen sicheren Betrieb. Die zu tauschende Kugelbahn am Schaufelradbagger ist von außen nicht sichtbar. Eine Arbeitsunterweisung vor Ort ist nur mit großem Aufwand möglich und erlaubt den beteiligten dennoch keine freie Sicht auf das Innere der Kugelbahn. Dazu wäre es notwendig den tonnenschweren Oberbau des Baggers anzuheben.


Am virtuellen Modell der Maschine kann jedes Bauteil sichtbar gemacht und in seiner Funktionsweise detailliert dargestellt werden. Abläufe lassen sich in beliebiger Geschwindigkeit steuern und können somit im Detail verstanden werden.


Werden Maschinen und Anlagen neu entwickelt, kann das zukünftige Bedienpersonal bereits vor der Inbetriebnahme am virtuellen Modell geschult werden. Das spart Zeit.


Virtuelle Lernumgebungen sind aber nicht nur für den Einsatz im Seminar geeignet. Im Arbeitsprozess kommen sie als virtuelle Wissensbasis zum Einsatz. Hier können Erfahrungsträger, deren Wissen infolge der demographischen Entwicklung verloren zu gehen droht, ihr Wissen dokumentieren und vollständig an die Nachwuchskräfte weitergeben. Während der Instandhaltung des Schaufelradbaggers haben die Mitarbeiter vor Ort die Arbeit in Form von Fotos und Videos dokumentiert. Diese wurden mit dem virtuellen Modell verknüpft und können für ähnliche Maßnahmen herangezogen werden.


Welche theoretischen Ansätze stehen hinter diesen Entwicklungen?

Tina Haase: Grundlage für die Entwicklung virtueller Lernumgebungen sind im Rahmen technischer Anwendungen 3D-Kontruktionsdaten. In der Regel sind diese Daten im Unternehmen bereits für die Fertigung vorhanden.
Im Rahmen einer Arbeitsprozessanalyse werden typische Arbeitsaufträge identifiziert und spezifiziert. Neben der detaillierten Beschreibung der Arbeitsschritte werden Randbedingungen betrachtet, die Einfluss auf den Arbeitsprozess haben. Die Anforderung des Auftraggebers kann z.B. die Bearbeitung innerhalb einer festgesetzten Frist sein.

Abgeleitet aus den Arbeitsaufträgen werden dann Lernaufgaben entwickelt. Diese werden in Anlehnung an das Prinzip der vollständigen Handlung, einem Leitprinzip der beruflichen, erstellt. Es umfasst die Phasen Informieren, Planen, Entscheiden, Durchführen, Reflektieren und Bewerten. Informieren kann sich ein Lernender in der Lernumgebung über den Aufbau und die Funktionsweise der dargestellten Maschine, aber auch über die geltenden Vorschriften zur Arbeitssicherheit und die optimale Vorgehensweise zur Bearbeitung eines Arbeitsauftrages.


Beim Planen und Entscheiden gilt es die richtigen Hilfsmittel und Werkzeuge auszuwählen und die erforderlichen Arbeitsschritte auszuwählen. Der Lernende kann die so geplanten Abläufe dann interaktiv, im einfachsten Fall mit Maus und Tastatur, durchführen.

Die Lernenden werden in der virtuellen Lernumgebung über Leitfragen gesteuert. Diese Rolle übernahm bisher der Dozent im Präsenzseminar.

Welche Erfahrungen konnten in der Praxis bereits gesammelt und ausgewertet werden?

Tina Haase: Im Rahmen des vom BMBF geförderten Projektes ViERforES wurde die virtuelle Lernanwendung hinsichtlich Akzeptanz, Usability und Lernerfolg evaluiert. Die Anwendung findet unter den Nutzern eine sehr hohe Akzeptanz. Die Teilnehmer sehen in der Anwendung einen Mehrwert für ihre eigene Arbeit und möchten sie auch zukünftig einsetzen. Die Bedienung war auch für Lernende ohne Computervorerfahrung schnell zu erlernen und erlaubte es den Nutzern, sich schnell in die Thematik einzuarbeiten.


Lassen sich die Erkenntnisse auf andere - nicht technische - Fachbereiche übertragen?

Tina Haase: Die didaktischen Ansätze der Handlungsorientierung lassen sich auch auf nicht technische Fachbereiche wie z.B. die Medizin übertragen. Auch hier ist, ähnlich wie in der Instandhaltung, ein hohes Maß an Problemlösekompetenz erforderlich um aus einem Fehler /Symptom die richtige Fehlerdiagnose /Diagnose abzuleiten und die richtigen Maßnahmen zur Fehlerbehebung /Therapie einzuleiten.


Im Unterschied zur Instandhaltung basiert eine medizinische Lernumgebung jedoch nicht auf Konstruktionsdaten, sondern auf Schichtdatensätzen (MRT, CT), aus denen 3D-Modelle rekonstruiert werden, z.B. von Organen.