"Wir können etwas verändern!"
Wutösching, September 2018 - Wer Schulen in eine digitale Zukunft führen will, muss ein Enthusiast sein – und die Irrungen und Wirrungen der aktuellen Bildungspolitik eher als Aufforderung zum Handeln, denn als Bremsklotz verstehen, so wie Valentin Helling, Lernbegleiter an der Gemeinschaftsschule Wutösching im südlichsten Zipfel Baden-Württembergs.
Wie schätzen Sie die aktuellen Möglichkeiten einer Schule konkret ein, sich zu "digitalisieren"?
Valentin Helling: Durch die sehr beschränkten finanziellen Mittel einer Schule, hat sie aus sich heraus kaum die Möglichkeit, eine sinnvolle und zielgerichtete Digitalisierung umzusetzen. Zumindest hier in Baden-Württemberg kommt der Löwenanteil des benötigten Geldes vom Schulträger. Wenn dieser also nicht in eine Digitalisierung der eigenen Schule(n) investieren möchte, wird es sehr, sehr schwierig. Dann bleibt eigentlich nur BYOD - was aus meiner Sicht die schlechteste Option zur Digitalisierung ist.
Was sind die Eckpunkte der "digitalisierten Gemeinschaftsschule Wutöschingen"?
Valentin Helling: Wir haben eine 1:1 iPad-Versorgung für unsere Schülerinnen und Schüler, unsere Lernplattform DiLer, ein Materialnetzwerk mit anderen Schulen, die Ausstattung der LernbegleiterInnen (LehrerInnen) mit MacBook und iPad durch den Schulträger, und: ein stabiles WLAN (extern betreut). Dazu kommt die Administration der Hardware über den Schulträger, die Administration der Software über Lernbegleiter – an dieser Stelle bin ich das. Dieses Paket ist für viele Schulen schon gar nicht vorstellbar und geradezu traumhaft. Dazu kommt unser stetiges Suchen nach "besseren Lösungen" und ganz wichtig!: alles was analog, erlebend, praktisch sinnvoller ist, auch so zu machen.
Was sind aus Sicht Ihrer konkreten Praxis die Zutaten einer erfolgreichen Digitalisierung von Schule - und wo liegen die größten Stolpersteine?
Valentin Helling: Damit die Digitalisierung Erfolg haben kann - sprich ihren "Mehrwert" voll ausspielen kann - darf der Fokus gerade nicht auf ihr liegen (zunächst)! Der Fokus muss auf einer veränderten Haltung gegenüber der Institution Schule und den in ihr arbeitenden und lebenden Personen gelegt werden. Solange Schule so strukturiert bleibt, wie sie es die letzten Jahrhunderte war, wird die Digitalisierung grandios scheitern. Und solange wir Kinder noch immer nicht als Individuen wahrnehmen und auch konsequent so behandeln, wird der "Individualisierungs-Gigant" namens Internet in den Schulen wohl eher als störend wahrgenommen werden.
Wie schätzen Sie das Angebot kommerzieller eLearning-Anbieter für Schulen ein?
Valentin Helling: Die diesbezüglichen Angebote sprießen wie Unkraut aus dem Boden. Die Qualität ist äußerst heterogen. Allerdings ist festzustellen, dass viele Inhalte auf traditionelle Strukturen ausgelegt sind. Die oft so hochgelobten Analysetools, anhand derer ich den Lernstand der Klasse ablesen kann, ist für uns auf Grund der Individualisierung der Arbeit mit unseren Schülerinnen und Schülern z. B. unbedeutend. Dennoch glaube ich, dass sich auf diesem Gebiet in den nächsten Jahren unglaublich viel tun wird. Digitale Inhalte sind schließlich einfacher anzupassen und auszurollen als früher die Deutschlandkarten, auf denen noch die DDR eingezeichnet war.
Welche Kriterien oder Perspektiven werden tendenziell vernachlässigt?
Valentin Helling: Zwei Probleme werden aus meiner Sicht häufig vergessen, bzw. zu wenig beachtet:
Erstens: Jeder Anbieter möchte für seine Inhalte selbstverständlich bezahlt werden. Möchte eine Schule viel nutzen, kommen teilweise horrende Kosten auf sie zu. Da müssen die Anbieter in Zukunft eine Lösung erarbeiten.
Und zweitens: Jeder Anbieter möchte natürlich Zugang zu seinen "Kunden" haben. Somit baut jeder eine eigene Plattform auf, auf der man sich registrieren muss. Jeder Lehrer weiß aber, wie schwierig es sein kann, dass sich Kinder nur schon ein Passwort merken. Und Passwortmanager sind da aus meiner Sicht der falsche Weg.
Mein Lösungsvorschlag für beide Punkte: Die Idee eines bundesweiten "Marktplatzes", auf dem Anbieter ihre Inhalte anbieten können. Über Lizenzen können sich dann Schulen das für sie passende Paket zusammenstellen und es den Schülern über einen Single-Sign-On zur Verfügung stellen. Ganz einfach.
Sie haben die Lernplattform DiLer mit aus der Taufe gehoben. Wo lag die Motivation für diesen Schritt?
Valentin Helling: Bei DiLer war ich eher Mitläufer. Initiator war und ist Mirko Sigloch. Ich habe ein Jahr nach der Initialzündung von DiLer das Materialnetzwerk aufgebaut, in dem zeitweise bis zu 43 Schulen an gemeinsamen Materialien arbeiteten. Mittlerweile haben wir eine Genossenschaft gegründet, die Materialien auf drei Niveaustufen als OER bereitstellen wird.
Die Motivation hierfür ist einerseits ganz einfach zu erklären, andererseits aber auch höchst komplex. Die einfache Antwort: wir können etwas verändern! Diese Chance hatten vor uns nicht viele LehrerInnen - zumindest in diesem Ausmaß. Bei dem Materialnetzwerk treibt mich die Idee voran, dass alle Lernenden weltweit Zugriff auf gute Materialien haben und dass LehrerInnen sich endlich mit den Kindern auseinandersetzen, und nicht mehr in die tägliche Materialschlacht verfallen (müssen).