Handlungsorientiert ausbilden mit Wikis
Rheinbach, März 2010 - (Von Dr. Stephanie Merkenich) Aus der Not eine Tugend machen - so die Philosophie im vollzeitschulischen Bildungsgang der Berufsfachschule für Glastechnik und Glasgestaltung am Berufskolleg Rheinbach. Im Rahmen des Modellversuchs KooL wurde ein Wissensnetzwerk rund um das Thema Glas als Wiki geknüpft. Da es kein Lehrbuch gibt, dachten sich die Auszubildenden: "Schreiben wir halt selber eins!" Geplant war zunächst ein Print-Produkt, jetzt ist es ein Wiki! Das Projekt steht auf der didacta auf dem Programm des Forums Ausbildung/Qualifikation am 17. März, wenn sich alles um Ausbildung im Handwerk mit digitalen Medien dreht.
Die Besonderheit: Am Glaskompendium arbeiten Auszubildende nicht nur aus Rheinbach, sondern von allen vier Glasfachschulen Deutschlands. So wird das kooperative Potenzial des Wiki über die Grenzen von Zeit und Raum hinaus voll ausgeschöpft. Qualität will gesichert sein: mit einer rotierenden Schüler-Redaktion, die die selbstorganisierten Artikel der Autoren-Teams prüft und Feedback für Überarbeitung gibt, bevor die Ausbilder die revidierten Beiträge kommentieren. Dadurch wird Lernerautonomie im Handlungskreislauf von der Planung bis zur Evaluation gewährleistet.
Qualitätssicherung im Glaskompendium
In der qualitätsfokussierten Arbeitsphase an den Artikeln für das Glaskompendium im Wiki erfolgt neben der Selbstbewertung auch eine Fremdbewertung durch die anderen Autoren-Teams im Wiki. Erst wenn die Autoren zufrieden sind, gilt der Artikel im Wiki offiziell als abgeschlossen und geht an die Schüler-Redaktion, die entweder den Artikel mit Hinweisen zur Optimierung an das Autoren-Team zurückgibt oder den Artikel freigibt zur Weitergabe an das Lehrer-Team und zur "Archivierung" im Wiki.
Auszubildenden fällt die Wahrnehmung der komplexen Qualitätssicherungs-Aufgaben naturgemäß nicht leicht, daher wurden gemeinsam mit dem Lehrerteam Bewertungs-, Beratungs- und Reflexionsbögen entwickelt, um möglichst qualifiziertes Feedback anhand spezifischer Parameter geben zu können. Muster zum Kopieren gibt es bei den Schüler-Arbeitsblättern.
Wie an dieser Musterseite zu sehen, nutzen die Schüler gerne die Multimedialität, um ihre Texte mit Bildern, Power Point-Präsentationen, Audio- oder Videodateien zu illustrieren. Das Glaskompendium wurde mit der Media Wiki-Software erstellt: Diese zeigt die typischen Reiter für Diskussion und Bearbeitung sowie die verschiedenen Versionen der Autoren an, so dass mit größtmöglicher Transparenz Feedback und Bearbeitungsstände nachvollzogen werden können - dies lässt keinen Raum für Vandalismus oder Feedback, das nicht sachbezogen und konstruktiv ist.
Eine komplexe situative Handlungsaufgabe wie die Erstellung eines Fach-Lexikons zu Ausbildungsinhalten als Wiki sollen die Auszubildenden zwar selbstorganisiert bewältigen - trotzdem benötigen Sie prozessbegleitende Hilfe. Diese gibt das Lehrerteam durch gezielten Kompetenzaufbau, v.a. mit Blick auf Selbstlernkompetenz und Sozialkompetenz. Zu den einzelnen Stufen des Handlungskreislaufs gibt es Info-Handouts und Übungsaufgaben, um die Arbeit am Wiki zu erleichtern. Dazu gehören die Themenkomplexe Zeitmanagement, Recherchestrategien, Textstrukturierung bei Rezeption und Produktion, Textpräsentation und Produkt- wie Prozessevaluation: Kopiervorlagen bei den Schüler-Arbeitsblättern.
Förderung von Selbstlernkompetenz
Auch die Bereitschaft zur Arbeit im Team muss gezielt gefördert werden: durch projektvorbereitende Teamtrainings, durch Einführung von Methoden wie dem Gruppenpuzzle, durch Funktionsrotationen im Moderations-Kleeblatt, durch Übungen zur Kommunikation wie aktives Zuhören und konstruktives Feedback geben, durch Sensibilisierung für angemessene Kommunikation im Netz - die Netiquette, durch kooperative Erarbeitung von Qualitätskriterien für die Lernprodukte - die Artikel im Wiki, durch Methoden zur Strukturierung des Arbeitsprozesses, durch Selbstbewertung der Arbeit in den Teams und - last but not least - durch ein Zertifikat, das die Teilnahme am Glaskompendium-Wiki dokumentiert. Es motiviert zwar eher extrinsisch, was ohnehin relativ hohe intrinsische Motivation zur Erarbeitung von Themen der selbstgewählten Ausbildung, an denen ohnehin großes Interesse besteht, im Alltagsmedium Internet lediglich ergänzt.
Förderung von Sozialkompetenz
Die Instrumente zur Förderung von Sozialkompetenz finden Sie als Kopiervorlage bei den Arbeitsblättern. Die Förderung der Fachkompetenz wird bei der Erarbeitung der Texte im Wiki angesteuert - die Textproduktion bei der Erarbeitung von Teilaufgaben kann jeweils gezielt mit Hilfestellungen begleitet werden, etwa durch einen der Lernsituations-Erarbeitung vorangestellten Advanced Organizer zum Themenfeld oder durch themenspezifische Tipps, Querverweise auf Handouts, Lösungswege oder Literaturhinweise. Noch lernintensiver wird das Wiki übrigens, wenn die Autoren an ihre Artikel Lernfragen für die Leser anfügen.
Unsere Erfahrungen? Aus Sicht des Lehrerteams ist klar ein Zuwachs an Selbstorganisations-Kompetenz zu verzeichnen. Und die Schüler? Auch die zeigen sich in regelmäßigen Evaluationen zufrieden - kein Enthusiasmus macht sich breit, sondern nüchternes Anerkennen der klaren Vorteile: orts- und zeitunabhängige Verfügbarkeit und Möglichkeit zu kooperativer Kreativität. Der Einsatz von Wikis im Unterricht zeigt sich in der Praxis also als deutliches Plus.
Vorteile für den Lernprozess
Die Praxiserfahrung zeigt: Die Möglichkeit zur zeit- und ortsunabhängigen Erarbeitung eines Artikels im Wiki eröffnet neue didaktische Perspektiven, z.B.
- in Präsenzlernphasen: Die Autoren können jederzeit auf ihre Artikel zugreifen. Ein separates Abspeichern im Intranet oder auf anderen Speichermedien entfällt. Das Medium erhöht außerdem die Transparenz: Da jeder der Beteiligten am Lehr-Lernprozess jederzeit Zugriff hat, können vielfältige Hilfestellungen gegeben werden, innerhalb der Peer Group genauso wie von Lehrenden.
- In Distanzlernphasen: Kooperation wird auch während Praktikumsphasen im Betrieb möglich oder während eines Schüleraustauschs: Die in der Schule lernenden Schüler und die am anderen Lernort Arbeitenden erstellen und diskutieren gemeinsam Beiträge.
- Zur Erweiterung des Kreises der Lernbeteiligten und der Lernorte: Ein Wiki kann nicht nur an einem Lernort und von einer spezifischen Lerngruppe erstellt sowie genutzt werden, auch Auszubildende anderer Lernorte können am Projekt partizipieren, Texte nutzen, v.a. jedoch an der kooperativen Erarbeitung von Artikeln für das Wiki teilhaben.
- Zur Stärkung der Sozialkompetenz der Lernenden: Da die Möglichkeit besteht, alle Beiträge zu editieren, Änderungen nachzuvollziehen und die Einhaltung inhaltlicher wie zeitlicher Absprachen zu überprüfen, erfordert es ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein seitens der Autoren.
- Zur Stärkung der Ambiguitätstoleranz: Trotz des Charakters des "Unfertigen" während der Erarbeitungsphasen müssen Auszubildende lernen, zielgerichtet zu arbeiten.
- Zur Stärkung der Personalkompetenz: Die Peer Correction stärkt die Personalkompetenz: Schüler beurteilen Beiträge und setzen sich der Beurteilung aus, was Kritik- und Konfliktfähigkeit fördert.
- Zur Stärkung der Fehlerkultur: Im Sinne konstruktivistischer Lerntheorien ist Lernen mit Wikis prozessuales Lernen, das Lernumwege zulässt und die Perspektive von der Lehrerzentrierung weg hin zur Schülerorientierung lenkt.
- Zur Nutzung von Multimedialität: Das Internet-Medium Wiki legt die Autoren nicht ausschließlich auf das geschriebene Wort fest, sondern ermöglicht durch die Einbindung von Bild und Ton Mehrkanaligkeit.
- Zum Erwerb von Medienkompetenz: Die einfache Editor-Technik der Wiki-Software erfordert keine besonderen technischen Kenntnisse und ermöglicht auch weniger computerversierten Nutzern schnelles Zurechtfinden.
- Zur Schaffung von Transparenz und Flexibilität: Das Wiki kann je nach Bedarf mit einem Passwort geschützt werden, bietet also den gewünschten Urheberrechtsschutz, ermöglicht aber allen Beteiligten jederzeit Orientierung über den Stand der Dinge. Außerdem können Struktur und Inhalt flexibel neuen Anforderungen angepasst werden.
- Zur Stärkung der Lernerautonomie: Schüler entwickeln als Redakteure ihrer eigenen Beiträge ein autonomes Qualitätssicherungssystem, da die Artikel gemäß dem Handlungskreislauf zur Kontrolle und Aktualisierung über die Schüler-Redaktion wieder in den Präsenzunterricht einfließen.
Auf der didacta:
Stephanie Merkenich: "Leichter lernen in der Berufsbildung mit interaktiven Internet-Medien - Der Einsatz von Wikis für projektorientierten Unterricht" am Mittwoch, 17. März, 11 Uhr bis 12 Uhr, Forum Ausbildung/Qualifikation, Halle 10